I wie Ikarus

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  10. Januar 2010, 11:38  -  #Filme

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Ein Meisterwerk.

Wie Kino anspruchsvoll, intelligent und zeitgleich enorm spannend und unterhaltsam sein kann, dass hat Henri Verneuil mit seinem Film vor 31 Jahren erstmalig und gestern erneut bewiesen. Diesem Film gebührt nicht nur der Status eines Klassikers, sondern eines Meisterwerks.

Von der ersten Sekunde des Films bis zur letzten fordert er höchste Konzentration vom Zuschauer und er fängt bereits vor der Titelsequenz an den Zuschauer mit folgender Aussage zu beschäftigen:

"Diese Geschichte ist vollkommen wahr, weil ich sie von Anfang bis Ende erfunden habe".

Wenn man diese Zeilen erst einmal gelesen hat beginnt schon auch die Titelsequenz zu der gewohnt wunderbaren Musik von Ennio Morricone und man fängt sich an Gedanken über diesen Satz zu machen. Wie kann etwas wahr sein, wenn es komplett erfunden wurde? Und eben mit dieser Gegenfrage die der Zuschauer sich stellt ist gleich die Basis für den ganzen Film geebnet, denn es geht in den folgenden 2h um die Aufdeckung der Wahrheit. Was entspricht der Wahrheit, was wurde erfunden? Insofern zieht sich Yves Montands obige Geste wie ein roter Faden durch den Film.

Die Parallelen zum Kennedy Attentat sind in den ersten Minuten des Filmes unübersehbar in der gesamten Inszenierung, inclusive der Theorie vom Einzeltäter, der in diesem Fall als Anagramm des Namens Oswald Daslow heisst. Doch es geht nicht um ein einfaches filmisches Plagiat der Wahrheit, sondern vielmehr um die Tatsache den Zweifel nicht fallen zu lassen, zu hinterfragen und seinem Gewissen zu folgen.

Den Rahmen für diese Fragen liefert ein Attentat auf einen Präsidenten, im Film Jary genannt, welches im Laufe eines Jahres von einer staatlichen Kommission untersucht wird und welche zum Ergebnis kommt, dass hier ein paranoider Einzeltäter gehandelt hat. Yves Montand spielt den Generalstaatsanwalt Henri Volney, der zu einer gegenteiligen Überzeugung kommt, dass er Zweifel an diesem Ergebnis hegt und den Fall neu aufrollen will, was einem Skandal nahe kommt, da er zeitgleich die Autorität dieser Kommission (ähnlich der Warren-Kommission im Fall Kennedy) in Frage stellt. In einer wunderbaren Einstellung, das ganze findet statt im Rahmen einer Fernsehsendung, sieht man ihn am Ende allein aus der "Vogelperspektive" gefilmt an seinem Tisch sitzen. Die Frage nach der Autorität und Gehorsam wird später nochmals aufgenommen.

Unterstützt von seinen Mitarbeitern fängt er an allen seinen Fragen nachzugehen und von diesem Punkt an nimmt der Film an Fahrt auf und man ist als Zuschauer Voyeur und Detektiv zugleich. Ungemein fesselnd verstehen es der Regisseur und der Drehbuchautor, in diesem Fall Didier Decoin, die Handlung voranzutreiben und ziehen die Spannung Schritt für Schritt an. Hoch interessant, wie man selbst dabei mitfiebert und wie die Blicke des Zuschauers auch bewusst gelenkt werden. 

Yves Montand liefert dabei als Staatsanwalt mit ergrauter Frisur und minimalistischem Spiel eine beeindruckende Leistung und macht den Zuschauer zum Komplizen, bzw. zieht ihn fortwährend an seine Seite. 

Das faszinierende an diesem Film ist, dass er in höchstem Masse analytisch ist und durchgehend einen fragenden Charakter hat. Dieser investigative Aspekt gipfelt in einem absolut sehenswerten und hoch interessantem (wenn auch in der Fachwelt kontrovers diskutiertem) Experiment, dem Volney beiwohnt, als er im Rahmen seiner Ermittlungen einen Professor für Psychologie aufsucht und diesen bittet die Persönlichkeit des vermeintlichen Attentäters zu erklären. Dieser als 'Milgram-Experiment' bekannt gewordene Versuch wurde 1961 in New Haven von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt und testet die Bereitschaft durchschnittlicher Personen autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zum Gewissen stehen.

link zur ausführlichen Behandlung dieses Themas auf Wikipedia.

Nach und nach deckt Volney die ganze Wahrheit auf bis zum Finale, welches in seiner filmisch-visuellen Umsetzung, als auch dramaturgisch als Meilenstein und absoluter Höhepunkt gewertet werden muss. Mir brennt es förmlich unter den Fingernägeln mehr dazu zu schreiben, aber da ich damit die Essenz vorwegnehmen würde lasse ich das bleiben. Es ist eines der besten Filmenden aller Zeiten und in seiner Wucht, als auch in der Nachhaltigkeit zwar nicht inhaltlich, aber doch formell mit dem von 'Once upon a time in the west' "vergleichbar". Atemberaubend gefilmt! 

'I wie Ikarus' ist mit 'Z' und 'Missing' (den ich mir als nächstes ansehen werde) von Costa Gavras, sowie 'JFK' von Oliver Stone definitiv einer der besten Politthriller, gar Filme aller Zeiten, den ebenfalls grandiosen 'The Parallax View' von Alan J. Pakula keineswegs zu vergessen. Man sollte diese Filme fast alle nacheinander sehen. Er zeigt wie man mit wenig Mitteln ein solch brisantes Thema in Perfektion in ein massentaugliches Medium wie dem Kino umwandeln kann. Insbesondere in heutiger Zeit, in der hektische Schnitte im Sekundentakt garniert mit wummernden und nervtötenden Bässen und Konsolen-Filmmusik an der Tagesordnung stehen verziert mit allerlei Gimmicks und Special Effects, war dieser Film eine absolut wichtige und wohltuende Abwechslung, gerade auch deswegen, da man als Zuschauer in einigen Sequenzen bloss gestellt wird und sich selbst ertappt fühlt. 

Henri Verneuil war ein französischer Regisseur armenischer Herkunft, der einige sehr erfolgreiche Filme drehte und zu dem Typus Regisseur gehört, der mir mit seiner filmischen Sprache ungemein imponiert. 'Angst über der Stadt', aber auch 'Der Clan der Sizilianer' gehören zu seinen erfolgreichsten Filmen.

Yves Montand war ein Schauspieler italienischer Herkunft, der mit 'Lohn der Angst' von Clouzot berühmt wurde und im folgenden mit solchen Meisterregisseuren wie Claude Sautet, Costa-Gavras, Philippe de Broca und auch Jean Luc Godard zusammen arbeitete. Aber auch in Hollywood war er mit 'Grand Prix' von John Frankenheimer erfolgreich und drehte mit 'Der unsichtbare Aufstand' und 'Z' zwei der berühmtesten Politthriller.

Im Grunde bestätigt mich der Film in meiner persönlichen Haltung: man sollte immer ein fragender Geist bleiben.

Ein Höhepunkt des Kinos. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich diesen Film das erste mal im Fernsehen sah und seitdem beeindruckt war und bin.

Nach 'Der Fall Serrano' und jetzt 'I wie Ikarus' werde ich mich in den nächsten Wochen mit etwas "leichterer" Kost beschäftigen. Aber bereits jetzt zeigt sich, dass die Reise nach Europa und das französische Kino einiges an Perlen und höchst erlesenen Filmen zu bieten hat, die es lohnt wieder und v.a. neu zu entdecken. 

Rick Deckard

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