So ist Ridley Scott’s NAPOLEON Film

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  4. Dezember 2023, 11:51  -  #Napoleon, #JoaquinPhoenix, #Filmkritik, #RidleyScott

Foto: picture alliance / Everett Collection

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Bereits zu Beginn des Jahres äußerte sich Mit-Autor Rick Deckard während unserer Diskussion über die Trailer und Filmvorschauen für 2023: "Ich freue mich auf Napoleon, aber derzeit lese ich die Biographie von Adam Zamosky. Dabei entstehen natürlich eigene Bilder im Kopf. Ein Leben von solcher Größe in drei Stunden einzufangen, ist eine Mammutaufgabe. Daher wird sich Scott wahrscheinlich auf die Aspekte beschränken müssen, die auf der Leinwand Sinn ergeben. Ich bin etwas skeptisch!"

Doch Ricky ist ebenso ein Cineast wie ich, und zwar von der alten Schule. Wir schätzen Filme, die opulent und perfektionistisch sind. Früher hätten wir diesen Streifen kaum erwarten können. Ridley Scott zählt seit jeher zu unseren Lieblingsregisseuren, ebenso wie Joaquin Phoenix zu unseren bevorzugten Schauspielern gehört. Die Darstellung eines Epos auf der Leinwand ist für uns die höchste Kunstform, und fast alle unsere Lieblingsfilme folgen einem ähnlichen Format, insbesondere aus der goldenen Ära Hollywoods. Doch wir leben in anderen Zeiten. Es bedarf keiner Erklärung mehr. Bei einem Film wie Napoleon im Jahr 2023 muss jedoch beachtet werden, dass Filme nicht mehr nur für die Leinwand produziert werden, sondern auch für das Display im Streamformat zu Hause. Dort wird das Geld verdient. Das Kino ist nur noch ein Nebenprodukt für Liebhaber und Nostalgiker.

Offensichtlich haben zumindest viele Kritiker und Historiker, insbesondere aus Frankreich, kein Verständnis dafür. Sie zerreißen den Film förmlich in der Luft: Historische Fehler, ein misslungener Film, eine Schändung – kurz gesagt, sie sind verärgert. Die Historiker sind außer sich: Austerlitz liegt nicht in den Bergen, Napoleon war nie selbst an den Schlachten beteiligt, auch nicht an der Hinrichtung von Marie Antoinette. Dann wird es persönlich, und auch Hauptdarsteller Phoenix wird aufs äußerste beleidigt. Napoleon war nicht weinerisch, er wird als "armer Kerl" dargestellt, und so weiter. Um die Zusammenfassung dieser französischen Arroganz am besten zu beschreiben, sollte ich wohl das Magazin "Le Point" zitieren: "Ein antifranzösischer Film eines Engländers".

Doch wie ist der Film nun wirklich?

Zunächst einmal ist Napoleon grandios und durchdacht besetzt. Grundsätzlich sind alle Darsteller aus dem zweiten und dritten Cast der weltweiten Schauspielerdatei dabei, die ein klassisches Gesicht haben und dem Zeitkollorit des 18. Jahrhunderts entsprechen. Besonders erwähnenswert ist Rupert Everett als Feldmarschall Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington. Everett spielt Wellington so, wie er wahrscheinlich war: snobistisch, arrogant und nervig – zumindest aus Sicht eines Franzosen. Eine der besten Szenen des Films zeigt, wie der ebenso arrogante Napoleon auf Wellington trifft, der ihm in einem Raum ähnlich Stanley Kubricks seine Zukunft im zweiten Exil mitteilt. Leider habe ich nirgendwo eine Zeile darüber gelesen. Daher weiß ich nicht, ob meine Vermutung stimmt und Scott diese Sequenz als eigentlichen Kulturclash zwischen Frankreich und England versteht. Zeigt sie, dass wohl nur ein Engländer (nämlich Kubrick oder Scott selbst) diesen Film hätte machen dürfen?

Napoleon ist über weite Strecken ein Liebesfilm. Vanessa Kirby spielt die Rolle von Napoleons Seelenverwandter Joséphine. Bei den vielen niederen Themen, um sich selbst als Filmkritiker zu beweisen, haben viele die Kirby gar nicht erst besprochen. Dabei ist sie tatsächlich eine der wenigen großen Katastrophen des Films. Der Grund dafür ist ihr Gesicht, das viel zu modern ist, um mit den Totalen des Films, die sie bekommt, Schritt zu halten.

Nun also, Napoleons Leben war selbst ein Film, wie Deckard bereits sinngemäß erwähnte. Und ja, Scott scheitert an der Länge der Erzählung, am Schnitt und somit auch an einer nachvollziehbaren Dramaturgie. Der Leitfaden ist Napoleons Liebe zu Joséphine, die einzige Konstante sozusagen. Ich spoilere nicht, wenn ich erzähle, dass Joséphine an Diphterie starb. Nachdem Napoleon von seiner Stieftochter erfährt, dass seine große Liebe gestorben ist, befinden wir uns als Zuschauer bereits bei der Schlacht von Waterloo. Die famos inszeniert ist und jedem RISIKO-Spiel-Fan Freude machen dürfte. Denn natürlich ist es wahnwitzig, wie sich die Männer dort gegenseitig massakrierten. Aber drei Würfel werfen und mit zwei Würfeln zu verteidigen ist auch nicht besser (!sic).

Diese recht zickigen Schnitte sind kein Zufall. Sie sind dem TV-Format geschuldet, wie ich bereits zu Beginn schrieb, und entsprechen sogar nicht dem üblichen Werk von Ridley Scott. Hier setzt die Industrie klar über den Künstler an. Wir können das furchtbar finden oder sagen: Wir klammern uns an einen kleinen Halm und freuen uns über die Botschaften, die zwischen uns Cineasten vermittelt werden. Der kleine Geheimcode, der uns sagt: "Leute, wartet ab! Alles wird gut in ein paar Jahren. Dann werden Filme wieder zuerst für das Kino gedreht und dann fürs Fernsehen oder die sogenannte Zweitverwertung, was auch immer das dann sein wird." Die Sequenz in Ägypten ist wohl die schlechteste im ganzen Film. Aber Joaquin Phoenix, der Fuchs, rettet diese Peinlichkeit mit einem schauspielerischen Glanzstück. Und zwar als er, Napoleon, einen alten Sarkophag mit der Mumie eines alten Königs öffnen lässt. Hier spielen Comic, Genie, Wahnsinn und die unbemerkte Codierung – "Hey, ich bin ein großer Schauspieler und spiele vielleicht die Rolle meines Lebens, darf es aber nicht so machen, wie ich es sehe" – eine große Rolle.

Dieser Ansatz wiederholt sich einige Male im Film. Am schönsten eigentlich, als sich Napoleon am Ende des Films mit zwei Kindern unterhält, die ihm seine eigene Vergangenheit erklären. Natürlich verstehen wir alle nicht, warum sich die Franzosen so aufregen. Napoleon hat fast eine halbe Million Männer in den Krieg ziehen lassen, die nicht zurückkehrten, und das teilweise nur für ein wahnwitziges Traumimperium. Scott selbst sagt, dass die Historiker ja nun auch nicht vor zweihundert Jahren dabei waren und besser den Mund halten sollten. Vielleicht sollten auch wir Stuntschreiber auf den vielen Filmblogs den Mund halten. Denn der Film ist natürlich absolut sehenswert, ein gigantisches Werk, das einen drei Stunden lang in Atem hält und zumindest für diesen Zeitraum fesselt. Und für jeden, dem das zu viel, zu oberflächlich oder nicht opulent genug ist, sollte sich an dem wunderbaren Joaquin Phoenix erfreuen, der Napoleon wie eine Karikatur zwischen den Attributen: verführerisch, rüpelhaft und irgendwie auch ein armer Kerl darstellt.

Größe ist relativ.

Alan Lomax (aus Versailles)

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