The Ugly, The Bad and Ennio Morricone
Hannover, Georgstrasse, Gloria-Kino, Ende der Siebziger Jahre, vergangenes Jahrhundert. Gerade hatte meine erste Begegnung nicht nur mit einem der verstörendsten Filme stattgefunden, sondern ich kam das erste Mal in Berührung mit der Musik eines Ennio Morricone. Noch nie war ich so konsterniert, wie nach diesem filmischen Erdbeben. Sergio Leone und Ennio Morricone hatten gerade mein gesamtes filmisches Weltbild auf den Kopf gestellt.
Ich echauffierte mich tagelang nach der Betrachtung von ONCE UPON A TIME IN THE WEST:
"Wie kann man bloß in einem Western Musik mit einer E-Gitarre spielen?"
Für jemanden wie mich, der mit dem klassischen Hollywood Western sozialisiert wurde und den Filmmusiken eines Jerome Moross, Hugo Friedhofer, Dimitri Tiomkin, Alfred Newman und vielen anderen, war das ein Affront! Eine Unverschämtheit! Und doch saß der Stachel tief und entfaltete seine Wirkung erst allmählich über die Jahre.
Es war eine der heftigsten und sprichwörtlich umwerfendsten Begegnungen mit Filmmusik, die ich je in meinem Leben erfahren durfte und nur eine andere Begegnung dieser Art hatte die gleiche Gewichtung: Die ersten Klänge der Musik von Maurice Jarre in Lawrence of Arabia von David Lean.
Ennio Morricone war mir, meinem Alter und meinem Intellekt zu dieser Zeit weit voraus und erst allmählich, nachdem das Interesse an Filmmusik wuchs, erst nach leidenschaftlichen Vertiefungen in der Kunst dieser Musikgattung begann ich allmählich zu verstehen, was Ennio Morricone war:
Ein Genie.
Nach der X-ten Wiederholung von ONCE UPON A TIME IN THE WEST entfaltete sich die ganze Genialität dieses Musikers, dieses einzigartigen Filmmusik-Komponisten.
Filmmusik beginnt dort, wo Worte enden. An dieser Stelle, wo der Mensch nicht mehr in der Lage ist, Emotionen mit Worten Ausdruck zu verleihen, beginnt Musik ihre Wirkung zu entfalten und es gibt neben Ennio Morricone nur einen einzigen weiteren Komponisten, der das nicht nur begriffen hat, sondern auch das Talent besaß, Musik bildhaft und mit voller emotionaler Wucht wirken zu lassen: John Williams.
Genau wie sein berühmtes JAWS Motiv kreierte Ennio Morricone mit seinem HARMONICA Thema eine der genialsten Melodien aller Zeiten. Die Wirkung dieser Melodie ist markerschütternd, vorausahnend, erinnernd, aus einer Parallelwelt stammend, aus weiter Ferne klingend. Kongenial setzte der italienische Künstler die von Leone beabsichtigte Wirkung in Töne um. Das Greinen einer Stimme voller Qual findet ihre Entsprechung in den Tönen einer Mundharmonika und dass es eben eine Mundharmonika ist und kein anderes Instrument, erklärt sich erst am Ende in einem der legendärsten Finale der Filmgeschichte.
Mir kommen Tränen in die Augen, wenn ich an den shoot out mit Charles Bronson und Henry Fonda denke. Tränen deswegen, weil es sich um Bilder in Kombinationen mit Tonabfolgen handelt, die Zeugnis ablegen von den Fähigkeiten eines der größten Filmmusikkomponisten, der je gelebt hat und am heutigen Tag von uns gegangen ist:
Ennio Morricone.
Wenn die elektrische Gitarre mit Eiseskälte ihre ersten Töne von sich gibt, so läuft einem eiskalt der Schauer den Rücken hinunter und erst später begreift man die Wahl dieses Instrumentes, wenn sich die Geschichte des Mannes mit der Mundharmonika und des ominösen Frank erschliesst.
Wie dieser geniale italienische Musiker die Mundharmonika, die Gitarre und nach und nach weitere Instrumente einschliesslich Streicher in Schichten übereinanderlegt, das sucht seinesgleichen, bis heute.
Unerreicht. Episch. Pure Emotion.
Avantgarde bedeutet dem Wort nach "der Garde voranschreitend".
Ennio Morricone war seiner Zeit und der musikalischen Filmwelt immer einen Schritt voraus, was insbesondere seine weitere grandiose Musik zu einem der besten Western überhaupt beweist:
Seine Titelmelodie zu THE GOOD, THE BAD AND THE UGLY.
Auch hier traf mich seine Komposition mit voller Wucht, wie eine Faust in die Magengrube und aus Unverständnis tat ich eins, als ich den Main Title hörte: Ich lachte und lachte und lachte. So wie Indio im zweiten Teil der Dollar Trilogie.
Der Main Titel zu diesem Western ist monströs und das in allen Belangen. Was Morricone da für ein Kaleidoskop an Stimmen, Melodien und Klängen kreiert zeugt von dem Wahnwitz dieses Genies.
Furios!
Ich habe mich heute lange gefragt, warum ich eigentlich so selten "Morricone" abseits der Filme, entkoppelt von den Bildern gehört habe? Man kann die Musik dieses Künstlers nicht abseits der Bilder hören. Nur ganz wenige seiner Kompositionen eigenen sich dazu, die allermeisten sind so eng mit den "motion pictures" verwoben, dass man Bild und Ton nicht trennen kann. Das ist einzigartig an ihm und seiner Kunst und zeugt von dem grossen Verständnis dieses Musikers für seine Kunst.
Ennio Morricone und seine Musik ist nicht nur das Western-Genre, ist nicht nur Leone, doch es werden die Filme und die Musiken bleiben, die diesen Mann und sein Werk geprägt haben, für alle Zeiten. Sie legten den Grundstein für seine Entwicklung, seine Popularität und seine Weltkarriere. Das Werk, das er uns hinterlassen hat ist riesig, vielfältig und abseits der Western sehr beeindruckend. Er hat für jedes Genre komponiert und war äusserst versiert nicht nur in der Filmmusik, sondern auch in der Popmusik und im Jazz. Die Zahl der von ihm komponierten Melodien ist unüberschaubar, man denke nur an die Titelmelodie von Le Professionnel (Der Profi) mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle. Eine Titelmelodie mit einer nicht greifbaren Schönheit, transzendentale Kommunikation mit den Mitteln der Musik. Eines von unzähligen Beispielen für sein Talent.
Es überkommt einem in der Regel Trauer, wenn ein ein geschätzter Musiker und Künstler nicht mehr unter uns weilt, doch das ist im Falle von Ennio Morricone anders. Er ist unsterblich und so auch die Vielzahl seiner Melodien, seiner Musiken und seiner Werke.
Der Italiener mit der großen Brille und dem schelmischen Gesichtsausdruck blinzelt uns zu und bevor wir zurück blinzeln, verbeugen wir uns vor ihm, strecken ihm unsere Gläser entgegen und lachen ihm zu, einem der grössten Filmmusikkomponisten der je gelebt hat.
Saluti Signore Morricone, grazie molto!
Alan Lomax & Rick Deckard