Ennio Morricone: Der Maestro - Giuseppe Tornatore

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  7. Mai 2023, 16:02  -  #Filmmusik, #Orchestrale Musik, #Kino, #Filme

Ennio Morricone: Der Maestro - Giuseppe Tornatore

Prolog

 

Es war im Sommer 1978. Ein Tag nach Betrachtung von "Once Upon A Time In The West" im Gloria Theater in Hannover. Ich drangsalierte meine Mitschüler in der Pause mit der immer gleichen Frage:

 

"Eine E-Gitarre! Wie kann man eine E-Gitarre im Western verwenden?"

 

Ennio Morricone - Il Maestro

 

Regisseur Giuseppe Tornatore (Cinema Paradiso) hat dem italienischen Komponisten mit seiner Dokumentation ein filmisches Denkmal gesetzt. Ganze und opulente 2 Stunden und 36 Minuten widmet er sich dem Leben und dem Schaffen dieses Ausnahmekünstlers und das Ergebnis ist einer der bewegendsten Filme, die ich gesehen habe. Es ist eine zu Herzen gehende Dokumentation.

 

Im Gegensatz zu Filmen, die der reinen Unterhaltung dienen, gibt es beim Dokumentarfilm keine Handlung im klassischen Sinne. Ein Thema, ein Mensch stehen im Mittelpunkt und ist es eine Kunst mit einen Dokumentarfilm  zu unterhalten und zu informieren. Beides ist Tornatore in unnachahmlicher Art und Weise gelungen und mit seinem Film kommt er nicht nur dem Künstler, sondern auch dem Menschen Ennio Morricone nahe.

 

Das Konzept besteht darin, als dass Tornatore, der nicht zu sehen ist, Morricone interviewt, frei reden, erklären lässt. Der Maestro sitzt in einem Stuhl und lässt sein Leben, sein filmisches Leben, sein musikalisches Leben Revue passieren. Man hört die Fragen nicht, man sieht Ennio Morricone zu, wie er spricht. Diese Monologe von Morricone bilden das Grundgerüst des Filmes, den Rahmen, in das Passagen aus dem Leben des Musikers eingeblendet werden, Filmausschnitte, Interviews. So ergeben die Chronologie seiner Vita zusammen mit den Äußerungen von anderen Musikern und Filmschaffenden ein beeindruckendes Dokument.

Ennio Morricone: Der Maestro - Giuseppe Tornatore

Es bereitet unglaublich viel Freude, diesem Genie zuzuhören. Es ist famos, sehr bewegend und ausserordentlich aufschlussreich. Seine Mimik, seine Gestik, sein völliges Aufgehen in der Kunst der Komposition und Musik. Ich bedauere es sehr, ihm zu Lebzeiten nicht geschrieben zu haben, als Bewunderer und Liebhaber der Filmmusik.

 

Seine Geschichten, seine Anekdoten (so erzählt er zum Beispiel, dass er beinahe, nach einem Anruf von Stanley Kubrick, die Musik zu "A Clockwork Orange" geschrieben hätte), die Anfänge, sein Verhältnis zu seiner Familie und insbesondere zu seinem Vater sind genauso neu und erhellend, wie sein Verhältnis zur Filmmusik und die Wertschätzung, die man Filmmusik im Allgemeinen entgegenbrachte und im Speziellen seinen Kompositionen. 

 

Ein besonderer Aspekt des Film ist der, als dass man von den Ausführungen Morricones eines lernt: Genau zuzuhören. Ich erinnere mich heute noch an die Aufforderung meiner Klavier-Lehrerin:"Hören Sie genau hin!" Das kann man tun, wenn man weiß, worauf man achten oder hören soll. Aber es benötigt kein spezielles Vorwissen, um die Schönheit der Kompositionen eines Ennio Morricone zu begreifen, das erfolgt intuitiv. Eine Leidenschaft dafür muss man aber schon aufbringen.

 

2 Stunden und 36 Minuten sind zu kurz für dieses gewaltige Leben und so vermag es Tornatore nur auf einzelne, wegweisende Etappen und Meilensteine einzugehen, zu vielfältig und zu groß war und ist das musikalische Oeuvre dieses Künstlers, als dass es sich in annähernd 3 Stunden abbilden ließe.

 

Natürlich widmet sich der Filmemacher der epochalen Zusammenarbeit Morricones mit einem anderen Genie: Sergio Leone. Immer wieder hat die Filmgeschichte gezeigt, dass es Geistesverwandtschaften bei Filmschaffenden gibt, deren künstlerische Ergebnisse bahnbrechend waren, ob Herrmann & Hitchcock, Spielberg & Williams oder eben Morricone & Leone.

 

Im Film erklärt Morricone, warum er wie welche Musik für Leone komponiert hat. An dieser Stelle, und das ist das einzige Manko des Filmes, hätte man sich eine detailliertere Analyse von Morricone und Tornatore gewünscht, aber angesichts der 500 (!) Filmmusiken, die Ennio Morricone komponiert hat ein (zeitlich) unmögliches Unterfangen.

Ennio Morricone: Der Maestro - Giuseppe Tornatore

Ich hatte gestern während und nach der Betrachtung des Film mehrfach Tränen in den Augen. Zum einen aus purer Freude, das Werk und das Leben dieses Ausnahmekünstlers als filmische Biografie zu sehen, zum anderen auch aus Wehmut, weil es diese Filme, diese Art zu komponieren, diese Filmschaffenden, seien es Filmmusik-Komponisten oder Regisseure, so nicht mehr geben wird. Sie sind Geschichte und sie haben Geschichte geschrieben. Es ist an uns immer wieder an sie zu erinnern, damit sie - gerade im Zeitalter der Schnelllebigkeit - nicht in Vergessenheit geraten.

 

Im Film kommen verschiedene andere Musiker zu Wort und zu sehen und zu hören, wie lebende Legenden wie Clint Eastwood und John Williams dem Maestro huldigen, das lässt kein Auge trocken! Pat Metheny, James Hetfield, Quincy Jones und viele andere erläutern im Film, warum sie Ennio Morricone und seine Musik so wertschätzen. Sein Einfluss auf die Musik ist enorm und bis heute  geblieben. Immer dann, wenn entkoppelt von der Leinwand Western Motive oder Szenen (zum Beispiel in Shows) dargestellt werden, erklingen sie, die Töne, die Morricone weltberühmt gemacht haben.

 

Epilog

 

Ich war genauso dumm, wie die Academy Of Motion Picture Arts und Sciences. Wenn Menschen etwas nicht verstehen, weil es Konventionen bricht, Gewohntem widerspricht, Erwartungen nicht erfüllt, dann tun sie es verächtlich ab, als etwas idiotisches, dummes und Sinn entleertes.

 

DIe AMPAS verweigerte Morricone so viele Oscars (und damit künstlerische Wertschätzung) für seine Musiken, weil er der Zeit voraus war und sie ihn nicht verstanden. Ennio Morrione war Avantgarde, semantisch "der Garde voranschreitend". Es war seiner Zeit weit voraus und darin liegt sein Genie begründet (und meine Dummheit).

 

Erst jetzt nach mehr als vier Jahrzehnten bin ich nach eingehender Beschäftigung in der Lage viele seiner Kompositionen zu verstehen und wenn Tornatore Morricone in Split-Screen Technik erklären lässt, dass ist das eine wahre Freude!

 

Ennio Morricone, seine Filmmusiken, sind, waren lehrreich in meiner Beschäftigung mit Filmmusik, weil er eines aufzeigte: Tolerant und neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein. Beides war ich nicht und daher auch konsterniert, als ich die E-Gitarre in "Once Upon A Time In The West" hörte und später auch in anderen Filmen von Leone. Beides war damals ein filmkultureller Schock für mich: Henry Fonda als Bösewicht auf der Leinwand und Geräusche, Klänge und E-Gitarren statt (gewohnt) orchestraler Musik.

 

Ennio Morricone - Der Maestro lege ich jedem Menschen nahe, der sich für das Kino, Filmmusik, Musik im Allgemeinen interessiert. Es ist eine der sehenswertesten Dokumentationen über einen Künstler und ein Vermächtnis an ein Genie.

 

John Williams hat recht, wenn er sagt, dass die Musik von Ennio Morricone auch in 200 Jahren noch gehört werden wird.

 

Es ist Musik von zeitloser Schönheit.

 

Ein völlig überwältigter

 

Rick Deckard

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