Haldern Pop 2011 – 1.000 Meinungen, keine Wahrheit

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  2. August 2011, 12:34  -  #Konzerte

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Dieses Jahr werde ich das erste Mal seit  1999 nicht bei meinem Lieblingsfestival am Niederrhein verweilen. Der Grund dafür sind organisatorische Differenzen mit dem Familienurlaub.

 

Trotzdem habe ich wie jedes Jahr gespannt die Neubestätigungen verfolgt, die Kommentare im legendären „Stammtisch“, dem Forum der Haldern Webpage, nachgelesen und nun den Zeitplan und die Bands sehr aufmerksam studiert.

 

Natürlich ist die Bewertung eines Line-Ups noch mehr der persönlichen Wahrnehmung unterworfen, als z. B. die Darstellung einer persönlichen Filmliste oder einer Listen der besten Platten aller Zeiten. Trotzdem werde ich mich nun mal zu einer persönlichen Meinung aus der Entfernung hinreißen lassen. Die folgenden Zeilen, kann man nun als „Neid eines nicht kommenden Besuchers“ werten oder eben als „The Lost Haldern Tapes“.

 

In den Millionen Foreneinträgen kann man seit Jahren eine gewisse Tendenz der Unzufriedenheit feststellen. Die Einführung des Spiegelzeltes, aber auch das generative Verhalten und die damit verbundene Haltung zum Thema Musik sind dem geschuldet.

 

Natürlich wird ein Festivalbesucher Aged 40, eine andere Erwartungshaltung haben als ein Festivalbesucher Aged 20 oder 30! Selektiv spielt dann noch der unterschiedliche Geschmack und der Umgang mit dem Freizeitfaktor Festival eine Rolle. Manche möchten gerne feiern, manche haben den Anspruch das Konzert ihres Lebens zu sehen, einige wollen beides, andere dann wieder nur die „Atmosphäre“ aufsaugen.

 

Arm dran, sind dann diejenigen, die die ganze Mischpoke zufriedenstellen müssen. Denn auch hier ist der Grad sehr schmal. Ein Festival hat ein Branding und ein Konzept. Jedes Einzelne in der Welt. Und das genau ist das Geheimnis des steten und gehypten Erfolgs von Musikfestivals. Menschen bilden sich ein, dass sie eine Gruppe gleichgesinnter an ein paar Tagen treffen. Einen fremden Freundeskreis sozusagen. Die Festivals wissen das, verkaufen das. Sie verkaufen eine Marke, die sie lange und mühsam aufgebaut haben.

 

Haldern hat den Ruf, eines der bedeutendsten Musikfestivals für sog. „alternative Musik“ in Europa zu sein. Die Bands der letzten Jahrzehnte bestätigen das. Es gab furiose Highlights, denkwürdige Entdeckungen, aber auch immer Mittelmass, wie auf allen anderen Musikfestivals der Welt auch. Unmöglich, 40 Bands zu rekrutieren, die alle das Masterpiece schaffen, die alle unterhaltsam sind, die alle bedeutungsvoll sind!

 

So weit so gut, dass sollte man doch zumindest annehmen!

 

Es geht aber auch anders! Mutlosigkeit muss/kann den Haldern Kuratoren inzwischen attestieren werden, wenn man sich die Line-Ups der letzten Jahre ansieht bzw. den Zeitplan und die Entscheidungen, welche Band, wann und wo spielt. Klar, Gegner dieses Textes können nun sagen: „…dass ist auch immer Abhängig von dem Zeitplan des Künstlers“, „zum Teil sind das Bauchentscheidungen, bisher lagen wir immer richtig“. Doch auch diese Wahrnehmung ist falsch:

 

Das grandioseste Beispiel einer Fehlentscheidung ist der Auftritt von Spiritualized auf der Hauptbühne mitten in der Nacht um 02:00 Uhr gewesen. Ich stand als Hardcoreknappenfan von Jason in der ersten Reihe, habe erst später wahrgenommen, dass ich eigentlich auch gleichzeitig in der letzten Reihe stand. Ca. 400 Zuschauer vor der Bühne, die die Band bewusst sehen wollten, der Rest war Grillen, Chillen oder sonst was machen.

 

Hätten Spiritualized in dem berühmten Zelt gespielt, wäre es anders geworden. Ob besser oder schlechter mag ich nicht beurteilen, da wir wahrscheinlich aufgrund unserer zeitlichen Verpeiltheit nicht mehr reingekommen wären. Dann aber wären 400 Zuschauer im Zelt gewesen, die von Spiritualized nicht geringste Ahnung gehabt hätten und vielleicht an eine coole skandinavische Band aus den Wäldern von Oslo gedacht hätten. Oder noch anders gedacht: Alter, wenn Spiritualized in Glastonbury spielen, hören 60.000 Leute zu! Na ja, auch eine Haltungen.

 

Somit ist auch z. B. die Entscheidung in diesem Jahr kaum nachvollziehbar, dass eine ohne Frage grandiose Band wie The Low Anthem auf der Hauptbühne zur besten Sendezeit spielen und gleichzeitig, die famosen, aber rockenden und festivaltauglichen Warpaint im kleinen Zelt spielen. Und genau hier fängt, das Rätsel raten an. 1.000 Meinungen, keine Wahrheit und nach den Auftritten, wahrscheinlich trotzdem viele glückliche und zufriedene Gesichter.

 

Man sieht, es gibt eine gewisse Unausgegorenheit, wenn man erstmal anfängt über diese scheinbaren „Kleinigkeiten“ nachzudenken.

 

Muss man also, deswegen ein ganzes Festival in Frage stellen und Menschen die das ganze Jahr daran arbeiten, zum Teil freiwillig, beleidigen und kritisieren? Wahrscheinlich nicht.

 

Warum aber spreche ich dann von Mutlosigkeit? Auch das ist Subjektiv. Auch hier könnte man wieder mit der Band „The Low Anthem“ anfangen. Der eine sagt, dass ist mutig, dass ist kultiviert so einer Band ein so großes Forum zu geben, andere werden das Gegenteil behaupten.

 

Schwierig also, das ganze an einzelnen Bands festzumachen. Die Kunst ein Festival zu konzeptionieren, liegt also in der Gesamtheit. Ein extrem gutes Beispiel dafür, war Haldern in der Vergangenheit.

 

Allerdings gibt es Festivals in dem Genre, die aufgeholt haben! Und jetzt könnte der große Wettbewerb, welches Festival, besser ist als das andere starten. Da drauf lasse ich mich hier aber nicht ein. Ein Beispiel soll als Referenz dafür stehen, was ich meine: http://www.atpfestival.com/

 

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In der Verantwortung steht also der Kurator. Der hat es nicht leicht und muss den ganzen vorstehenden Dialog, den ja nicht nur ich führe, ausbaden, verantworten und kommentieren. Somit beißt er sicherlich häufiger seinen Hund! Schließlich muss er ständig, seine Entscheidungen kommentieren. Fürchterlicher Job!

 

Andererseits (!) steht er natürlich auch in der Verpflichtung seine „Marke“ weiter zu entwickeln.  „Kommuplikation“ war somit auch vor einigen Jahren das richtige Motto des Festivals und ist es eigentlich auch noch heute.

 

 

 

Klar, dass Stefan Reichmann, der Festival-Macher (nennen wir ihn doch mal beim Namen) genau damit zu kämpfen hat. Er muss „das Sinnbild der gutgemeinten Improvisation“ aufrecht erhalten, kämpft aber auch gleichzeitig (wie es dieses Jahr so schön in unseren Motten heißt) gegen „die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben“ an, die ja bekannter Weise „die Traurigkeit“ darstellt.

 

Musikalisch ist Festivalleiter Reichmann schon immer ein Anwärter für das Erbe meiner Plattensammlung gewesen. Allerdings hat er auch famosen Aussetzer gebucht, die er sich selbst oftmals gewünscht hat, aber nicht immer Sinne des „Plattentütenunterdemarmamsamstagvormittagmannes“ war. Unpopuläre Entscheidungen und manchmal halt auch Naivität. So zum Beispiel in diesem Jahr zu glauben, dass die „Könige der Langeweile für Menschen die keine Ahnung für Musik haben“ die Konsensband des Tages sind. „Wir sind Helden“ werden ihren blöden Bandnamen auf jeden Fall nicht bestätigen können. Aber auch das ist subjektiv. Und das wird ja langsam aber sicher die kleine Schwester von Meinungslosigkeit!

 

Was soll das nun also alles?

 

Ich persönlich glaube, dass man sich mit einem Festival identifiziert. Immerhin muss man lange dafür planen. Zeitlich, aber auch inhaltlich. So ein Festivalbesuch hat auch etwas mit Zusammenhalt, mit Gruppenbildung, mit persönlicher Leidenschaft, mit Freizeitstress und Identifikation zu tun. Schließlich könnte man ja auch anstatt zum Haldern Pop, zum Rock am Ring fahren, oderoderoder. Auch da sind gute Bands, vielleicht auch nette Leute, aber wahrscheinlich ist die Gesinnung eine andere. Womit man bei der ältesten aller Marketingfragen ist: Warum gibt es Menschen, die sich für einen Mercedes oder für einen BMW entscheiden. Obwohl die gleiche Käufergruppe im Prinzip den gleichen soziodemographischen Hintergrund hat?

 

Das Rätsel ist wohl kaum zu entschlüsseln! Nach über 12 Jahren persönlicher Halderngeschichte, lässt sich wohl auch kaum etwas Ähnliches in mir und bei meinem Leuten etablieren. 13 Jahre voller guter Momente, positiven Erinnerungen, guten Zeiten mit Freunden und grandioser Musik.

 

Denn reduziert gesehen geht es genau darum: Eine gute, entspannte Zeit zu haben und hin und wieder eine extrem gute neue oder geliebte Band zu sehen. Ich bleibe Haldern treu und setze mich auch gerne weiterhin damit auseinander. So ist das halt mit Hobbys und mit Leidenschaften, die einem wirklich wichtig sind.

 

Alan Lomax

 

Die besten 5 persönlichen Auftritte auf dem Haldern-Pop, der letzten 12 Jahre, aus musikalisch, inhaltlicher Sicht

 

2001 – Kelis

 

Gemeinsam mit Teilen der legendären Hip-Hop-Fusion-Band The Neptunes brachte Kelis 2001 das nach Haldern, was aus meiner Sicht auch heute noch immer fehlt. Der Blick über den Tellerrand! Die damalige Vereinigung von Funk, elektronischen Elementen und großen Anteilen an Rockeinflüssen, brachte ein selten erlebtes weltliches Flair auf den alten Reitplatz. Nach Anfänglichen Problemen der Verständigung (es gab tatsächlich Beleidigungen von Zuschauern, die anschließend von Kelis eigenen Security Männer aus den Reihen gezogen wurden), gab es ein grandioses live gespieltes Hip-Hop-Set mit starken Rockeinflüssen.

 

Übrigens ist es nicht so, dass Kelis vergessen ist. Ihre im letzten Jahr erschienen Platte „Flesh-Tone“ ist eine grandiose Dancescheibe mit massgeblichen Arrangements. Was wäre also der Wunsch für Haldern?

 

2001 – Phoenix

 

Der erste deutsche Auftritt der inwzischen zur erfolgreichen, aber immer noch massgeblichen Band Phoenix, wird wohl für alle Beteiligten unvergesslich bleiben.  Überhaupt war 2001 aus meiner persönlichen Sicht das best gebuchteste Haldernjahr. Kante, Kelis, Muse, Starsailor, Divine Comedy. Eine grandiose Mischung mit Weitsicht. Gleichzeitig unvergessen dann, die nur 4 Tage später stattgefundene Fortsetzung bei der popkomm. Beim Introducing dann noch mal Phoenix gesehen und für immer hängen geblieben inkl. legendärer Zaungeschichte gemeinsam mit Rick Deckard und den andernen Kumpanen.

 

2002 – The Notwist

 

Oftmals ist die Erwartungshaltung bei Festivalauftritten von Lieblingsbands groß. In Haldern haben einige davon gespielt, die nicht in dieser Liste auftauchen, weil sie regelrecht versagt haben (Evan Dando), zu einem falschen Zeitpunkt gespielt haben (Motorpsycho nach der Flut) ,schlicht weg durchschnittlich an diesem Tag waren (Mogwai) oder einfach nur grottenschlecht waren (Belle & Sebastian). The Notwist haben alles bestätigt, was ich immer an den Weilheimer geliebt habe und noch immer verehre. Einen einzigartigen Sound, völlige Antipop Verpeiltheit, grandiose Songs und eine kompakte, unvergessliche Darbietung.

 

2004 – Starsailor

 

Eines der Konzerte die ich nie vergessen werde, weil sie zum richtigen Zeitpunkt und zu meiner richtigen Konstitution gespielt haben. Es war endlos laut, druckvoll und unfassbar authentisch. Solche Momente habe ich auch bei den Editors, Muse, James, Paul Weller, Embrace etc. gehabt, aber ein Beispiel muss man ja nennen….

 

2005 – The Magic Numbers

 

Das perfekte Konzert, am perfekten Ort, um mich herum die perfekten Menschen, vor den perfekten Musikern.

 

Die besten 5 persönlichen Auftritte auf dem Haldern-Pop, der letzten 12 Jahre, aus Sicht der Unterhaltung

 

1999 – Sportfreunde Stiller

 

Eines der wohl ersten Sportfreunde Konzerte überhaupt. Damals um 12:00 Uhr Mittags im Zelt. Aber nicht in diesem überwerteten Spiegelzelt, sondern in einem alten Schützenzelt, in dem Ewing und ich noch einige Stunden zuvor die ebenfalls famosen und längst vergessene Beta Band gesehen haben. Die Sportis haben ein druckvolles, unterhaltsames und durstigmachendes Punkrock Konzert gespielt und damit bewiesen, warum sie später so eine Konsensband wurden.

 

2002 – Ian Brown

 

Meine peinlichsten Momente auf dem Reitplatz, nachdem ein gewisser Serienstar, eine tötliche Mischung RB und Vodka zusammengebraut hatte. Nachdem ich zwei mal der Länge nach auf den Boden gefallen bin, ohne mich abzustützen, Rob Gorden zwei Eimer Bier über den Kopf gekippt hatte, lag ich tatsächlich 2 h vor der legendäre Espressobar im trockenen Schlamm, ohne das mich jemand bemerkt hat. Was zu anschliessenden Emotionalitäten führte. Aber nicht nur bei mir.

 

2004 – The Soundtrack of Our Lives

 

Eines der besten Konzerte aller Zeiten! Voller Wahrhaftigkeit, Liebe und Richtigkeit. Immer noch im Gedenken an Professor Rocco Clein clein.jpg

 

2005 – The Polyphonic Spree

 

Das hat mich glücklich gemacht! Eine weitblickende Buchung, die ja wohl auch bis heute ziemlich exklusiv bleibt und ist. Danach bin ich 2 Jahre in weißen Gewändern rumgelaufen , habe meine Religion geändert und mir Konfettikanonen zugelegt...

 

2008 – Editors

 

Das war einfach nur schön und unvergesslich, weil es auch etwas mit Mrs. Lomax zu tun hat, die nicht eine unwesentliche Rolle bei dem ganzen hier spielt. Seit dem bin ich sehr großer Fan dieser Band.

 

Usw. usw. usw. es wird Zeit ein Buch zu schreiben…..

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