So war das Kid Francescoli Konzert in Köln - 10.10.2023

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  11. Oktober 2023, 10:32  -  #Cologne live, #Elektronische Musik, #Ennio Morricone, #Feuilleton, #Gloria Köln, #Konzerte, #Konzertkritik

by Alan Lomax
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Kid Francescoli live Köln Gloria 10.10.2023

Schwierige Zeiten sind es, wirklich! Die extremistische Partei AfD wird in Hessen zur zweitstärksten und in Bayern zur drittstärksten Kraft. Der anhaltende Konflikt in der Ukraine und nun auch in Israel verschärft die Situation weiter. All dies trägt zur zunehmenden Spaltung der Gesellschaft und düsteren Stimmung bei. Dies soll kein weiterer oberflächlicher Artikel über den Zustand unseres Landes und der Welt sein, aber ich muss zugeben, dass mich das alles stark an "L'Enfer - Die Hölle" denken lässt.

Als reflektierender Mensch verabscheue ich nichts mehr als Schwarz-Weiß-Denken und Oberflächlichkeit: Die Diskussion darüber, ob Popmusik politisch sein muss, will oder kann, und ob Politik vielleicht selbst zur Popkultur geworden ist, möchte ich hier jedoch nicht vertiefen. Stattdessen möchte ich über den gestrigen Auftakt der Europatournee des französischen Elektro-Dream-Pop-Meisters Mathieu Hocine, auch bekannt als Kid Francescoli (10.10.2023, Köln Gloria), sprechen. Als bewusste Entscheidung, sich in Aktivitäten zu vertiefen, die von der Realität ablenken und zumindest ein paar Stunden seelische Erholung bieten. Denn dieses Kid Francescoli Konzert ist eine reine augenblickliche Selbstpflege gewesen, stellt aber natürlich keine Lösung dar.

Kid Francescoli hat vor kurzem sein neues Album „Sunset Blue“ veröffentlicht. Produziert hat es der ebenso geniale Simon Henner (French 79), gemastert wurde es von Alex Gopher, gemischt von Stan Neff. Wer sich mit der französischen Popmusik auskennt, wird bereits bei der Aufreihung des Produzententeams in eine gewisse Stimmungsaufhellung getrieben. Das neue Album ist eine musikalische Brücke zwischen Vladimir Cosma und Ennio Morriconne und der zeitgenössischen Elektronica bzw. French-Touch Bewegung, zwischen L’Imperatrice und Lewis OfMen. Und es ist bereits das fünfte Album und somit eine logische Fortsetzung des französischen Musikers. Die Single „Moon“ hat mehr als 200 Million Streams. US Superstars wie Jennifer Lopez, haben die Countermelodie gesampelt und bei Chanel, Xbox, Yves Saint Laurent, laufen Mathieus die „chanson à succès“ auf und ab.

Das Kölner Gloria ist zur Hälfte gefüllt. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz für französische und belgische Bands in Deutschland zu sein: Halbleere Säle und wenig Zuspruch. Selbst die größte französische Band, Phoenix, gibt während ihrer Welttournee nur ein Konzert in Deutschland. Superstars wie L'Impératrice spielen in halbleeren Art-Theatern, und echte Sensationen wie Charlotte Adigéry, Agar Agar oder Odezenne sind in Deutschland weitgehend unbekannt. Nur das belgische Elektrokollektiv Glauque hat es geschafft, einige Auftritte in Deutschland zu haben, dies aber auch nur, weil das Haldern Pop Festival die Band vorgestellt hat. Das Festival macht das übrigens schon seit Jahren bei französischen und belgischen Bands, aber der Zuspruch verblasst leider oft in der Live-Akzeptanz der Booker. Laut Stefan Reichmann (Haldern Pop) liegt dies auch an traditionellen Missverständnissen bei der Kommunikation, Organisation und den Gagen der Akteure.

Musikalisch bewegt sich Kid Francescoli geschickt zwischen Electronica, Filmmusik, Indiepop und Chanson. Alle Songs werden auch live elegant und stilvoll präsentiert und folgen dem romantischen French Touch. Ähnlich wie Vladimir Cosma könnte man auch Kid Francescoli als Meister der Eingängigkeit bezeichnen. Ich habe dieses Zitat kürzlich für den aufstrebenden Superstar Lewis OfMan verwendet. Beide Musiker haben vielleicht die größte Schnittmenge in der aktuellen französischen Popmusikszene. 

Das Konzert heilt alle aktuellen Wunden und macht die Welt für die viel zu kurze Zeit von knapp 90 Minuten ein Stück schöner. Die kontemplativen und filmischen Pop-Hymnen werden von einer ziemlich fantastischen Sängerin vorgetragen, die ein wenig, aber unnötig am Bass zupft, und von einem Schlagzeuger, der den Off-Beat und die geschickt platzierten Edit-Breaks punktgenau untermauert. Fans der ersten Stunde vermissen an der Stelle die Sängerin Julia Minkin, die einen wesentlichen Anteil am Sound der Band hat und die musikalische Identität mit geschaffen hat. Kid Francescoli selbst steht in der Mitte der Bühne vor einer kleinen Sphäre aus Lichtern, die ein schönes siebziger Jahre Discogefühl vermitteln. Minimalistisch aber ziemlich wirkungsvoll. Von Zeit zu Zeit greift der Meister zum Mikrofon und singt aus vollem Herzen. Das Gloria tanzt, und für einen kurzen Moment wird der Ärger draußen vergessen. Das ist die Magie der Popmusik. Ein großartiges Konzert. Bisher zählten das Album "Teenagers" von French 79 und natürlich Lewis OfMan zu meinen Lieblingswerken von Musikern aus meiner Nachbarschaft. Der sympathische Kid Francescoli muss jedoch jetzt auch wegen seiner langjährigen Bedeutung immer wieder genannt werden. Vielleicht ist er sogar der Grand Sénieur des French Touch.

Das Album wurde natürlich im Jean-Michel Jarre Studio in der Nähe von Paris produziert. Die Single "Run, Run" spiegelt die Vielschichtigkeit sehr gut wider. Die Melodien, Sounds, Loops, organischen House-Beats, neoklassischen Elektrobeats und epischen Disco-Sounds funktionieren live hervorragend und bleiben sofort im Gedächtnis. Ein Highlight, neben dem Dauerbrenner "Moon", der am Ende des Sets gespielt wird, ist die musikalische Reise "Corsica". So wird auch das fünfte Album auf keiner Playlist für ferne Länder fehlen. Das ist Musik für die goldene Stunde, für den Moment, in dem alles stillsteht, und wir erkennen, dass uns weder Nazis, Terroristen noch dumme Menschen etwas anhaben können. Total notwendiger Eskapismus.

Alan Lomax

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