Erdmöbel - Retrospektive

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  25. September 2011, 10:15  -  #Populäre Musik

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Die Vorgabe zur Retrospektive ist pure Konfrontation.

Die Band steht im Vordergrund.

Alle 4 Gesichter blicken einen direkt an. Kein Sentiment, gar Nostalgie erweckendes Bild, keine Zweideutigkeiten, keine Gesichter im Profil, kein Mosaik alter Plattencover. Aufnahmen an Passfotos erinnernd ohne jedwede Emotionen. Bevor ich die CD einlegte war ich somit sehr gespannt, was mich auf den folgenden 18 Stücken erwarten würde.

Ich liebe deutschsprachige PoP-Musik: Die Erweckung, wenn man so will, kam vor vielen Jahren als Lomax und ich ein Konzert in Köln besuchten. Von da an gab es kein Halten mehr. Verwundert war ich, was für schöner, zeitloser PoP in dieser Sprache möglich war. Viele Bands wechselten von da an die CD-Schublade, deren Namen ich hier im Einzelnen nicht erwähnen will, nur ... Erdmöbel?

Auch ich muss eine persönliche Retrospektive in dieser Hinsicht bewerkstelligen. Warum war diese Band nicht mit dabei? Im gemeinen heisst es ja "hinterher sei man immer schlauer", aber auch dieser Satz lieferte mir keine Antworten.

Wobei ich ehrlicherweise gestehen muss, dass mir Erdmöbel nicht gänzlich unbekannt waren. Hier und dort habe ich einige Songs geladen und richtig aufmerksam wurde ich, als die Band eine Coverversion aufnahm: 'Wieder allein, natürlich'. Ich empfand es damals als sehr mutig den Gilbert O'Sullivan-Klassiker in deutscher Sprache zu singen aber es funktionierte, blendend sogar. Da fällt mir ein: Der erste Dominostein wurde umgeworfen, als die 'Nah bei Dir'-EP erschien. Bacharach! Doch aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht entschliessen mich dieser Band noch näher zu widmen, bis heute.

Erdmöbel macht es mir einfach, denn jetzt habe ich die Möglichkeit mit ihr gemeinsam zurückzublicken.

Was mich nach den 18 Titel ungemein beeindruckt hat ist die Musikalität.

Das hört sich vielleicht banal und kryptisch an, vielleicht sogar offensichtlich, ist es aber nicht, weder das eine noch das andere. Ich war erstaunt über die enorme Spannbreite der Stilismen, so und in dieser Form habe ich das bei keiner anderen deutschsprachigen Band gehört.

Die Variabilität der Musik reicht von 'Ambient' bis 'schlageresque'. PoP, Rock, Independent-Style, Liedermacher-Qualität, Sprechgesang, sogar die Einbindung "exotischer" Instrumente ('Anfangs Schwester heisst Ende') war da zu hören. Aber nicht nur die ganze Bandbreite der populären Musik beeindruckte mich, sondern auch die Instrumentierungen, Harmonien und Akkorde, die eine wohlige Gänsehaut nach der anderen verbreiteten. 

Die Musik ist die eine Ebene, der Text die andere und da erwischten mich 'Erdmöbel' mit voller Breitseite. Kein entrinnen vor den so vielen Wahrheiten, Konfrontation mit Tatsachen um auf das eingangs erwähnte Cover zurück zu kommen. Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass die Besonderheit dieser Retrospektive darin liegt, wie offen und vor allem ohne jedwede Scham die Band (Lebens-)Inhalte über ihre Musik vermittelt, die einen (mich) direkt ins Herz, Mark und Bein trafen. Die Wiedererkennungswert eigener Gedanken, Episoden aus dem eigenen Leben, Erinnerungen ist wirklich verblüffend hoch.

Diese Symbiose aus Musik und entwaffnender Ehrlichkeit in den Texten war es, die mich nach dem Anhören des Albums am meisten beeindruckte.

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Das Album (mit meinen Assoziationen):

'Der Blaue Himmel' eröffnet das Album mit einer kleinen elektronischen Meditation und geht über in den Kracher 'Wurzelseliger'.

Erdmöbel erzählen in ihren Songs immer wieder kleine Geschichten, wie bei 'Wette unter Models' und diese Titel haben einen solchen Charme, dass man fast genötigt wird auf die Wiederholungstaste zu drücken.

'Russisch Brot' imponiert mit einem schönen Arrangement und verbreitet gute Laune durch Humor. 'Anfangs Schwester Heißt Ende' ist Mini-Kino: lebensnah, tolle Melodie (wie so oft), schöne Instrumentierungen.

'Fremdes' hört sich an wie ein Bekenntnis, 'Lied Über Gar Nichts' klingt wie ein idealer Rausschmeisser nach einer verkorksten Party.

Ein absoluter Höhepunkt der Zusammenstellung ist 'Busfahrt'. Das meinte ich mit entwaffnender Ehrlichkeit ohne Peinlichkeit. Sprechgesang und wieder diese klasse Instrumentierung.

Es folgt eine ganz grosse Live-Nummer: 'Vergnügungslokal Mit Weinzwang'. Ganz ehrlich: Was für ein fantastischer Song, diese Bläser, herrlich!

Bei 'Wort Ist Das Falsche Wort' musste ich wieder an diese Diskrepanz denken, die mich schon so oft bei deutschsprachigem PoP begleitete: die zwischen harmonischer, melodiöser Musik und diesem kratzigen, gar nicht auf Einklang zielenden Gesang.

'Wieder Allein, Natürlich' erwähnte ich.

'In den Schuhen Von Audrey Hepburn' beginnt furios, verbreitet auf Anhieb gute Laune und machte Erdmöbel endgültig super-sympathisch. Ich musste lachen, lachen aufgrund von Freude.

Immer wieder diese Harmonien und Bläser, so auch in 'Au Pair Girl'.

Unbeirrbarer Optimismus mit 'Das Leben Ist Schön'; mit 'Audrey Hepburn' zusammen vielleicht einer der besten Songs von Erdmöbel?

'Für Die Nicht Wissen Wie' macht mir klar, dass diese Band so singt und so Musik macht, wie Sie es möchte. Erinnerte mich an das Wort 'Unabhängigkeit'.

'Dreierbahn' ist in gewisser Weise vielleicht auch bestimmend für die textlich-musikalische Philosophie der Band? Ich weiss es nicht, da ich mich mit der Diskografie nicht auskenne. Aber genauso, wie man Lebensmut und Freude aus ihren Stücken heraushört, so oft auch eine gedrückte Stimmung, unterdrückte Euphorie ... . Aber vielleicht betrifft es nur diesen Song. Ist auch keineswegs negativ gemeint. Gehört ja auch zum Leben.

'Lang Schon ToT' mit seiner Rauigkeit, Wildheit und rockigen Anleihen ist das vorletzte Stück, bis das luftige, leichte 'Die Devise Der Sterne' das Album beendet.

Für mich ist das Ende aber der Anfang, denn bereits jetzt beim Schreiben laufen schon einige Songs auf Dauerrotation. 

Retrospektive als Prospektive, denn diese Zusammenstellung ist mehr als überzeugend gewesen und macht mir v.a. Mut, dass es in diesem Land Musiker, Menschen gibt, die Musik nach wie vor aus Überzeugung machen und diese so präsentieren, wie sie es für richtig empfinden. Empfindungen? Diese wurden zuhauf beim Hören hervorgerufen.

link zur offiziellen Homepage der Band

link zu YouTube: Erdmöbel-Retrospektive: Eine kleine Bandgeschichte

link zu YouTube: Erdmöbel TV

link zu YouTube: 'In den Schuhen von Audrey Hepburn'

link zu YouTube: 'Das Leben ist schön'

link zu YouTube: 'Der blaue Himmel'

Ich fahre jetzt Fahrrad unter blauem Himmel, denn der Herbst beschert uns noch schöne Tage und über die Kopfhörer läuft:

'Das Leben ist schön'.

Das Ganze aber in eigenen Schuhen.

Rick Deckard

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