Changeling (Der fremde Sohn) – Das gute Gewissen
Die dunkele Seite der US-amerikanischen Gesellschaft der zwanziger Jahre. Pessimistisch, dicht, zerstörerisch, beunruhigend und pathologisch. Ich musste unweigerlich an einen meiner Lieblings Autoren James Ellroy denken, als ich am Wochenende den Film Changeling von Clint Eastwood gesehen habe.
Überrascht habe ich dann festgestellt, dass J. Michael Straczynski das Drehbuch geschrieben hat. Straczynski hat bisher viel Fernseharbeit geleistet. Unter anderem hat er Folgen zu „Mord ist ihr Hobby“, „Babylon 5“ oder „He-Man and the Masters of Universe“ geschrieben.
Umso lustiger die Vorstellung wie der etwas kaputte und verrückte Ellroy in seinem Lieblingskino in L.A. saß und sich den Film angesehen hat. Unweigerlich muss er gedacht haben: „Jo, dass wäre meine Geschichte gewesen. Wen soll ich verklagen? ...Fuck!“
Eastwoods Drama reiht sich mühelos in die L.A. Tetralogie „The Black Dahlia“, „The Bis Nowhere“, „L.A. Confidential“ und „White Jazz“ ein. Dies vorab!
Was Clint Eastwood mit diesem zweiten großen Film in Reihenfolge (nach Grand Tourino) gelungen ist, werden einige Generationen nach uns erst feststellen. Dann wenn sie „Changeling“ noch einmal sehen und denken, wie großartig muss das gewesen sein als unsere Eltern und Großeltern zu Lebzeiten die Premiere dieses Filmes sehen konnten. Damals als Genie Clint Eastwood noch am Leben war.
Es gibt eine Sequenz in „Der fremde Sohn“ der exemplarisch für die zeitgenössische Kunst von Clint Eastwood steht. Drei Polizeibeamte bemühen einen jugendlichen Verdächtigen auf einer alten, einsamen Farm ein Kindermassengrab auszuheben. Die drei Beamten stehen wie Cowboys aus einem Sergio Leone Filme um den grabenden Jungen. Dieser schaut immer wieder verängstigt, auf die drei Männer. Die zwischenzeitlich denkbar nachvollziehbare Posen eingenommen haben. Einer der Männer stellt sein Bein auf einen Baumstamm und zündet sich eine Kippe an. Eine kleine Geste, die den gesamten Eastwood-Almanach zum Vorschein bringt. Der Junge findet anschließend einige Leichenreste. Einer der Polizisten erstarrt in Mitleid und nimmt den Jungen in den Arm. In der Mitte des Grabes. Die Kamera nimmt die Vogelperspektive ein und zoomt in einer fantastischen Fahrt vom Grab weg. Welt!
Eastwood scheint vor Kraft, Ideenreichtum und Kreativität zu trotzen. Derzeit macht er jährlich einen Film, schreibt zum Teil die Drehbücher oder komponiert die Musik zu seinen Filmen. In Changeling hat er sich für einen zurückgenommen Piano-Jazz-Score entschieden. Die Partitur ist offensichtlich nur für den Charakter von Christine Collins, gespielt von Angelina Jolie angelegt. Das Theme wird nur am Anfang und am Ende des Filmes verwendet. Der komplette Mittelteil des Filmes ist weitestgehend „scorefrei“. Eine kluge Entscheidung. Die düstere Stimmung des Filmes, wird unterstrichen und ist streckenweise unerträglich eng. Jolie sagt in dem Making-Off... das sie ab sofort mit keinem anderen Regisseur mehr arbeiten möchte. Nachvollziehbar, Frau Pitt. Schließlich ist die Leistung der Schauspielerin in diesem Film –mit einem Wort- gigantisch. Jolie spielt sehr verhalten, sehr zurückgezogen. Eastwoods Schauspielerführung ist eine Anleitung für nun ja, gehobene Schauspielerführung! In den Schlüsselszenen darf sie dann „overacten“. Das Karma eines jeden durchschnittlichen Schauspielers. Aber wirksam. An dem Tag, an dem sie dem Mörder ihres Sohnes gegenübertritt, explodiert sie. Der ganzen aufgestautenWut, über ihr Schicksal und die erfahrene Ungerechtigkeit lässt sie freien Lauf. Es gibt nicht viele Sequenzen in der Filmgeschichte Hollywoods, die so eingehend, eng und verstörend sind.
Cut. Eastwood lässt es sich nicht nehmen, die Hinrichtung des Mörders zu zeigen. Eastwood ist ein erklärter Befürworter der Todesstrafe. Ich will kurz klarstellen, dass ich persönlich große Probleme mit dieser Einstellung habe. Menschenrechte und die Abschaffung der Todesstrafe sind für mich eine wichtige persönliche Einstellung zum Leben. Dennoch habe ich Respekt vor dieser Haltung Eastwoods. Er macht diese Sichtweise eindeutig klar und steht künstlerisch und moralisch dahinter. Die „Frankfurter Rundschau“ hat von einer stummen Predigt gesprochen. Eine gute Beschreibung.
Clint Eastwood weiß sehr genau was er tut und was er seinen Zuschauern zumuten muss, damit sie wach bleiben. Changeling ist ein hoch verstörender Film. Der streckenweise an das absolute ertragbare eines Zuschauers herangeht. Die 133 Minuten sind ein düsteres Meisterstück in Sepia.
Die Geschichte ist facettenreich und erzählt mehrdimensional eine tragische, authentische und unfassbare Ungerechte weitere Seite aus der amerikanischen Geschichte. Man kann die Ausstattung und die Sujets des Filmes durchaus epischen nennen. Nicht erklärbar und staunend sieht man ein L.A. der zwanziger Jahre. Als Los Angeles noch die Stadt der Engel war.
Dieser Film ist beklemmend, mitreißend und ein Lehrstück für den amerikanischen Film. Ich bin sehr zu frieden, zeitgleich vollends begeistert über das Genie eines Clint Eastwoods. Der das gute, letzte Gewissen einer zunehmend sterbenden Kunst ist. Dem Hollywoodkino!
Alan Lomax