Stolen Moments - Oliver Nelson

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  28. September 2023, 18:12  -  #Jazz, #Kommunikation, #Oliver Nelson, #Alan Lomax Blog

Stolen Moments - Oliver Nelson

Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mein Leben zu ändern. Menschen meiner Generation sprechen in diesem Zusammenhang häufig von Work-Life-Balance, Ernährung, Sport und Bewusstsein. Viele beginnen damit, eigentümliche Sportarten zu praktizieren, starten merkwürdige Diskurse zu Themen, mit denen sie sich bisher gar nicht oder wenig beschäftigt haben. Im Prinzip also gar nicht so schlecht, denn nicht gemacht, haben wir das ja alles schon!

Leider holt der Alltag uns dann schnell wieder ein. Gewohnheiten und Bewährtes sind schneller wieder da, als wir es gewollt haben.

Mein Fall ist scheinbar einfach. Denn mein Ziel der Lebensveränderung war es, einzig und allein Langeweile zu generieren. Also, nach dem Tagwerk und Verpflichtungen, irgendwo zu sitzen und zu überlegen: Und jetzt?

Dabei habe ich konsequent darauf geachtet, dass dieser Moment so lange wie möglich anhält, am besten für Tage.

Als ich letzte Woche eines Abends so da saß und die Langeweile kam, hörte ich die Jazznummer "Stolen Moments" von Oliver Nelson.

Nelson war ein amerikanischer Jazz-Saxophonist und Filmkomponist, der nicht nur ein genialer Musiker war, sondern auch mit Größen wie Gato Barbieri, Count Basie, James Brown und Quincy Jones zusammengearbeitet hat. Er starb im Alter von 43 Jahren.

1960 komponierte er den Song "Stolen Moments", der zunächst durch ein schönes Intro eingeleitet wird: viertaktige synkopierte Akkorde. Der Song erschien auf dem beachtenswerten Album "The Blues and the Abstract Truth" (1961).

Nach dem Intro driftet "Stolen Moments" seltsam ab. Die Stimmung wird mit kommender Interpretation immer düsterer. Die Figur bleibt beim Trompetensolo erhalten, aber die Form des gesamten Ensembles scheint in ein Moll-Blues-Schema überzugehen. Es entsteht also eine zweite wechselnde Stimmung. Zu dem Grundton gesellt sich also ein weiterer Tonumfang.

Ich höre seit über 35 Jahren Jazzmusik. Ich hatte unglaubliche Momente in meinem Leben mit dieser Kunstform. Die Erweiterung der Harmonien durch zusätzliche Töne bzw. Blue Notes haben mich meist aus dem täglichen Allerlei der Musik, die ich sonst so höre, herausgerissen.

Irgendjemand hat einmal gesagt: "Musik ist das, was du selbst erfahren hast." Menschliche Empfindungen also! Und ich spreche nun natürlich nicht von Wut, Krieg, Konflikten (Free Jazz = Expressiv) oder von fusionierter Vielfalt und Wissen (heutiger Standard = Überblick über alle Stile) und auch nicht von meinem geliebten Bebop, den ich auch aus politischen Gründen seiner Protagonisten so liebe (dissonante Harmonik, innere Zerrissenheit, ein Gegenentwurf zur spießigen weißen Swingvariante) usw. Sondern ich spreche hier von der Harmonik generell, die mich bei "Stolen Moments" insbesondere anspricht. Also von Wohlklang, mit der überlagerten dissonanten Stimmung.

Das Ziel des Eingangs in diesem Text erwähnten Drangs meiner Boomer-Generation ist es letztendlich, einfach gesagt, mit sich im Reinen zu werden, auf welchem Weg auch immer. Eine philosophische Form der Selbstbefriedigung. Das Gefühl der Langeweile ist ein Gefühl der Eintönigkeit. Somit ist eigentlich schon fast zu simpel, dass der Gegenentwurf Jazz in seiner Vielschichtigkeit bewegt. Langeweile wird auch angemeldet, wenn einem etwas oder alles im Kern unwichtig ist. Im Existentialismus ist Langeweile ein Grundzustand der menschlichen Existenz.

"Stolen Moments" ist so ein wichtiger Song für meinen kurzfristig gewordenen Idealzustand der Langeweile geworden. Denn dieser Zustand erinnert mich auch daran, die Kontrolle zu verlieren. Allerdings fördert Langeweile auch die Kreativität.

Es muss nicht immer alles schwarz-weiß sein. Und vielleicht sind es ja auch oft die Musikstücke, die mich in diesen Zustand bringen, aber viel häufiger auch wieder heraus. Aber über Eskapismus denke ich dann in meiner nächsten Stunde der Langeweile nach…

Schöner Song übrigens: "Stolen Moments" – Oliver Nelson

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