Haldern Pop Festival 2021 – Eine liebenswerte Kämpferin der Kontinuität

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  29. Juli 2021, 12:21  -  #Alan Lomax Blog, #Essay, #Festivalbericht, #Feuilleton, #hpf2021, #Haldern Pop, #Independent Musik, #Popmusik, #Stefan Reichmann, #radio

Haldern Pop Festival 2021 – Eine liebenswerte Kämpferin der Kontinuität

WIr besuchen das Haldern Pop Festival in absoluter Regelmäßigkeit (since1999). Lange als Besucher, dann auch als Berichterstatter auf diesem Blog und im drietten Jahr als Mitglied des 674FM musikabend Haldern Pop Festival Radios. Auch in diesem Jahr senden und berichten wir live vom Festival im Audiostream auf www.674.fm und auf allen bekannten Radioportalen.

Die kulturelle Welt beschwert sich fortdauernd, dass eine Benachteiligung in allen Disziplinen der Politik, der Förderung, der Aufmerksamkeit und der Gesellschaft stattfindet. Die Selbstreflexion ist bei näherer Betrachtung subjektiv, ebenso wie dort natürlich das alte Sprichwort „Wer am lautesten schreit, hat selten recht“ zur Anwendung kommt! Denn dort, wo wirklich kreativ und innovativ gedacht wird, hört der Mainstream kaum noch hin und denkt weiterhin museal.

Die Gesellschaft fordert Außengastronomie, die Rückkehr zum hedonistischen Feiern, zur Freiheit. „Je öfter, desto besser“ gilt für alles, auch für Konzerte, Musik und Kultur. Inhalte sind scheinbar egal geworden. Hauptsache, es steht irgendwo eine Bühne, auf der jemand steht und etwas aufführt.

Eklektiker regieren das Musikgeschäft seit einigen Jahren und haben dann in den letzten 14 Monaten heimlich die Macht übernommen. Auf jedem Konzertposter der Welt, in jedem Line-Up und auf jeder Playlist der ganzen bekannten Plattformen haben sich DIY-Musiker*innen breitgemacht, deren wenig vorhandene künstlerische Voraussetzung zwar spannend sein könnte, in der Zusammenführung und der leichten Erkenntnis des Wortes Nachhaltigkeit aber keine Rolle spielen werden.

Joseph Beuys, der nicht nur Künstler, sondern auch Sozialkritiker und Philosoph war, verbrachte seine Kindheit in Krefeld, seine Schulzeit und vor allem zwei wichtige Jahre der künstlerischen Selbstfindung in Kleve bei den Malern Hanns Lamers und Walther Brüx. Ein regionaler Zusammenhang zu dem kleinen Dorf Haldern besteht.

Und wir alle wissen, dass unsere Freunde in Haldern häufig mehr wissen. So wissen sie z. B. auch, dass Beuys zwar den Satz: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gesagt hat. Dies aber wohl auch eher aus einer Art romantisierten reaktionären Situation heraus, im Sinne davon, dass die Welt voller Rätsel ist und jeder Mensch sich dem stellen kann. Beuys muss hier als Akinator dargestellt werden, da er zeitgleich Pate und Influencer für diese inzwischen unmögliche Haltung geworden ist.  

Das zweite Leitmotiv des diesjährigen Haldern Pop Festivals ist der Satz: „Zu sein, ohne es zu müssen.“ Eine lange Zeit haben wir in unseren Höhlen verbracht. Vielleicht hat einigen von uns das sogar gefallen. Anderen vielleicht weniger. Manche haben sich vielleicht Gedanken über die vielen inflationären Partys, Clubbesuche, Konzerte und viel zu vielen Begegnungen in ihrem Leben gemacht. Vielleicht ist manch anderem dabei aufgefallen, dass eine hohe zweistellige Prozentzahl unbedingt uninteressant war. Manche habe so vielleicht auch festgestellt, dass eine Aufführung nicht alles ist und für die Bezeichnung „der perfekte Tag“ mehr Teile gehören als zwei warme Bier aus einem Pappbecher am Abend zu trinken und einer lausigen Band zuzuhören.

Langsam und entschleunigt, das galt schon immer für Haldern. Weshalb also nicht die Schönheit der Region mit Aktivitäten, Konzerten und neuen Ansätzen verbinden? Das Beste aus beiden Welten also. Gesagt, getan und so heißt es 2021 im Vorfeld des Festivals (welches bereits ausverkauft ist!) nicht, hat noch jemand eine Karte für Samstag? Sondern möchte jemand „Wandern“ Donnerstag mit „Radfahren“ Samstag tauschen?

Sie haben richtig gehört. In Haldern können Sie in diesem Jahr Musik hören, sich der Wandertruppe oder den Radfahrern anschließen. Natürlich alles limitiert und den Auflagen der Ämter entsprechend. Die Musik kommt natürlich nicht zu kurz. Und so lauert hinter jeder Waldecke und längerem Teilabschnitt eine Bühne, auf der ein Künstler oder Band steht, die Musik machen.

Eine Zentrale gibt es natürlich auch. Und das ist diesmal nicht der Reitplatz, sondern das Dorf. Vor der Haldern Pop Bar wird die Marktplatzbühne aufgebaut. Auch hier werden nur 100 Zuschauer zugelassen und es gibt recht aufwendig produzierte exklusive Konzerte in der Kirche. So spielt z. B. die New Yorker Band DIRTY PROJECTORS ein exklusives Konzert mit dem STARGAZE ORCHESTER. Zu Gesprächen, auf ein Glas Wein und einen schönen Abend können ausgewählte Dorfgärten besucht werden, die von gastfreundschaftlichen Einheimischen geöffnet werden.

Black Country, New Road, Denise Chaila, The Holy, Wu-Lu, Jelly Cleaver, Catastrophe und Kikagaku Moyo sind nur einige Bands die in Haldern spielen und bilden mit all den anderen das wie immer grandios abgestimmte Line-Up des Festivals.

Eine negative Bewertung des Konzeptes steht zum jetzigen Zeitpunkt niemandem zu! Die aktuelle Situation von Konzertveranstaltungen ist eine einzige Katastrophe. Gut zusammengefasst hat das Berthold Seliger bereits im Herbst letzten Jahres in seinem Aufsatz: „Von Konzertveranstaltern und Schweinezüchtern“. https://www.heise.de/tp/features/Von-Konzertveranstaltern-und-Schweinezuechtern-4922637.html?seite=all

Die gerechte Meinung ist nach dem Lesen des Textes auch ziemlich eindeutig und lässt sich sowohl positiv als auch negativ mit dem Wort „Ungleichheit“ zusammenfassen. Das Haldern Pop Festival war schon immer ungleich. Also divergent, andersartig, abweichend. „Amüsemang“ ist ein am Niederrhein häufig verwendetes Wort. Zudem ist diese Region natürlich landschaftlich geprägt. Terra icognita bedeutet, ein schwieriges Unternehmen „urbarmachen“. Kompliziert weitergedacht: Kultur = zwei Silben: Kult (sinnvolles Tun) – ur = urbarmachen. Anstrengung, die Kultur einem abverlangt.

Festivalchef Stefan Reichmann fasst solche komplizierten Überlegungen lieber lakonisch in einem Satz zusammen: „Ich will ein Festival, das sich wie Schützenfest und Fronleichnam anfühlt“. Er ist ein Verteidiger der Kultur. Und sein Haldern Pop Festival bleibt eine liebenswerte Kämpferin der Kontinuität.

Von unter der Linde

Alan Lomax

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