Kaltern Pop Festival 2019

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  31. Oktober 2019, 12:41  -  #674.fm, #Festivalbericht, #Festivals, #HPF2019, #Haldern Pop, #Kalternpop, #Kommunikation, #NEU! Elektronische Musik, #radio, #Stefan Reichmann

by Alan Lomax Foundation

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„Das Kaltern Pop Festival vermittelt radikale Empathie mit so viel Kraft, dass jeder Besucher automatisch aufgefordert wird, seine eigenen Werte völlig neu zu überdenken.“

 

Von Alan Lomax

 

Stellen Sie sich ein kleines Dorf in einer spektakulären Bergszenerie vor. Umgeben von Weinbergen und Obstgärten, fernab von jeglichem Schmutz und Staub der Gegenwart. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Der Herbst zieht langsam über die mächtigen Alpen. Der sich zu Ende neigende Sommer zeigt den sich hier aufhaltenden Menschen noch einmal, worauf es bei dieser Zurückführung ankommt.

 

In den kleinen Gassen des Dorfes reiht sich ein uriges Weinlokal an das nächste. Die Menschen stehen und sitzen draußen. Sie unterhalten sich, essen Spezialitäten und trinken Wein, es wird gelacht. Eine Wesensschau, eine Erkenntnis des Glücks.

 

Die Welt der Pop- und Rockmusik war einmal eine große Schaufensterscheibe. Hinter Glas lächelten die Auslagen bedeutungsvoll. In Kaltern und den unfassbar atmosphärisch perfekten Konzert-Venues gibt es dieses Trugbild nicht mehr. Die Auslagen der alten Schaufenster sind ein leerer Raum geworden. Die Menschen aber, die hier ihre Kunst vorstellen, vereinen sich mit den Zuhörern des Festivals mittels Musik und Annehmbarkeit. Und es ist nicht nur eine einmalige Erscheinung, die einem einzelnen Ereignis zuzuordnen ist. Es findet eine Veränderung in der Gesamtheit statt, die von hier ausgeht. Eine Verbindung als vielschichtiges Phänomen, die bei der Wahrnehmung eines jeden Einzelnen stattfindet

by Alan Lomax Foundationby Alan Lomax Foundation
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„Die Idee, etwas wirklich Belangloses zustande zu bringen, birgt offenbar bestimmte Möglichkeiten in sich.“

 

…solche Sätze hat der Feuilleton noch vor einigen Jahrzehnten über die Popkultur geschrieben. Und wir Musikbesserwisser haben noch bis vor kurzem gedacht, dass Geschmacklosigkeiten und Provokation immer noch die besten Mittel sind, um die eigene Umgebung zu testen bzw. Musik als Waffe zu nutzen. Verloren in der „Dunkelheit des Alls“ (Tocotronic).

 

Reviews und Konzertbesprechungen sind Abfall für alle! Musik ist immateriell, also kein Objekt. Was kann also die Sinnhaftigkeit von allem sein, was ich hier in den letzten Tagen erlebt habe, dort oben in Südtirol? Auf den Bewusstseinsakt und der Erkenntnis, dass hier alles schön, lecker und nett ist, kann ich das nicht beschränken. Es wäre aus einer Tradition übernommen, die ich selbst noch nicht erfahren habe, da ich das erste Mal hier bin. In einem Anflug von Genialität erfasste der Musikjournalist Diedrich Diederichsen vor langer Zeit eine kluge Anschauung der Wirklichkeit und stellte die Frage: „Wo bleibt das Musikobjekt?“.

 

Körper-Sein und Körper-Haben. Zum Glück komme ich nach gefühlten 20 Litern Wein langsam wieder zurück zu meiner traditionell geneigten Sinnzentrierung. Und Diskurse über analytische Perspektiven kann man führen, wenn ausreichend Materialitätszusammenhänge vorhanden sind und verständlich gemacht werden. Musik, die wir hören, hat viel mit Orten zu tun, muss aber auch immer körperlich bleiben. Und trotz des Abfalls der Besprechung, bleibt die Live-Performance, also der Mensch.

 

Die Identitätsbildung und Subjektivität des Rezipienten muss irgendwann in den Hintergrund treten, auch um die Gewichtung wieder hinzubekommen. Wobei ich aber ausdrücklich darauf hinweisen möchte, dass eine klassifizierbare Form des Lebensstils bei einem Kaltern Pop Festival Besuch, überhaupt nicht unbewusst stattfinden kann. Bei niemandem, der je dabei war.

Kaltern Pop Festival 2019
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„I want to talk about politics and parent’s divorce / I dont’t want sugar-coated dreamy chat, I want real talk / I don’t want to talk about the weather / And pretend that I’m fine / This Time / I want to talk about how and why“

 

Wie ein liebevoller freundschaftlicher Schlag in mein Gesicht rüttelt mich die aus Manchester stammende Neo-Soul-Sängerin Odette Peters mit dem Song „What a Lovely Day“ und dem sehr passenden Text über radikale Empathie im Drescher Keller und am nächsten Tag im Weinmuseum auf und erinnert mich daran, worum es tatsächlich geht: Nämlich um die Frage, was an einem Popkünstler(in) materiell greifbar wird bzw. wie die Deckungsgleichheit mit normierten Verhaltensweisen im Augenblick des Ortes oder in der Alltagsrealität ist. Das Kaltern Pop Festival vermittelt radikale Empathie mit so viel Kraft, dass jeder Besucher automatisch aufgefordert wird, seine eigenen Werte völlig neu zu überdenken.

 

Noch immer befinde ich mich in Kaltern! Noch immer denke ich an die tollen Menschen, die ich kennenlerne durfte, an die wunderbaren Momente bei den Konzerten und den interessanten Interviews mit Künstlern, die ich geführt habe. Den unglaublichen Momenten mit meiner Frau und meinen Freunden bei so viel gutem Wein und leckerem Essen. Bin dankbar dafür, dass ich an dieser ganzen Welt teilhaben darf und mehr und mehr verstehe, was da einer wirklich will, der das alles erfunden hat…

 

Ein Musik-Objekt bleibt dabei eine abstrakte verbale Erfindung eines genialen Popkulturdenkers. Wenn man aber die perfekte Bezeichnung für Kaltern aufrufen will, ist die Erfindung der Bezeichnung Musik-Objekt als geschütztes Wort gar nicht mal so schlecht.

 

Eine etwas bodenständigere Radioreportage bieten wir Ihnen am 23. November 2019 in unserer 674FM Radiosendung musikabend feat. Alan Lomax Blog ab 18:00 Uhr an. Wir haben wie gewohnt viele Stimmen eingefangen und u. a. ausführlich mit den Bands Brandt Brauer Frick und dem Tiroler Musiker Manu Delago gesprochen.

 

Weit weg…

Alan Lomax

 

An der Stelle möchten wir uns vom ganzen Herzen bei Stefan Reichmann und seinen super sympathischen Kollegen bedanken! Danke!!!

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