CHERNOBYL Serie – Weshalb diese Serie ein Argument für das Genre Serien ist

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  28. August 2019, 12:17  -  #Fernsehen, #serien

CHERNOBYL Serie – Weshalb diese Serie ein Argument für das Genre Serien ist

Das Leugnen von Umweltkatastrophen hat eine lange Tradition und ist leider immer noch zeitgemäß. Regional, überregional, weltweit, auf der Suche nach Katastrophen, finden wir schnell und im medialen Überfluss stündlich neuen Horror.

„Chernobyl“ zeigt das „mörderische Atom“ von Tschernobyl in fünf Folgen. Am 26. April 1986 wollen Mitarbeiter des Kraftwerks, es erst selbst nicht wahrhaben: Korrupte Politiker, arrogante Wissenschaftler, ein veraltetes Parteisystem und völlig überforderte Menschen versuchten sinngemäß und leider auch vor Ort „das Feuer auf dem Dach zu löschen“, bevor festgestellt wurde, dass der Reaktorkern freiliegt. Das Ausmaß der Katastrophe ist weitestgehend bekannt.

Ich selbst bin ein Tag vor der Katastrophe 16 Jahre alt geworden und habe damals in Niedersachsen gelebt. Das Thema war omnipräsent, aber ich erinnere mich, dass es auch schnell wieder verschwunden war. Obwohl Messungen immer wieder bestätigt hatten, dass der Wind nach Deutschland weht, blieben nur Warnung über die vorübergehende Verwendung von Milchpulver für stillende Mütter und ihre Babys am Tag über. Und natürlich war die Spargelernte in Gefahr. Verdammt! So ein Schicksal für die Niedersachsen. Kein Spargel zur besten Saison. Scheiß Russen! [sic]

Natürlich habe ich damals die Illustrierte Stern gelesen und auch den Spiegel, sowie Tageszeitungen. Ein wohlinformierter Bildungsbürgertum-Haushalt stellt das den „Kleinen“ damals zur Verfügung. Wir haben Nachrichten geguckt und ich erinnere mich, dass die Folgen der Katastrophe sogar in der Schule besprochen wurden. Hedonistisch geprägt wie die Gesellschaft in den achtziger Jahren so war und umgarnt von sehr vielen täglichen Ereignissen, politischen Entwicklungen und natürlich der eigenen Pubertät geschuldet, ist das Thema allerdings schnell wieder abhanden gekommen.

Ich habe mich selbst gewundert als ich die Serie gesehen habe und festgestellt, dass ich eigentlich gar nicht richtig wusste, was damals wirklich passiert ist. Wer war schuld an den über 4.000 Todesopfern, an der direkten Vergiftung von 6.400 km² landwirtschaftlicher Fläche und Waldgebieten, an der Umsiedlung von 240.000 Menschen und den gesundheitlichen Folgen die bis heute gar nicht zählbar sind.

Wie kann sich eine scheinbare Unterhaltungsserie also diesem komplizierten Thema am besten nähern, um die Alltagswirklichkeit der Menschen und die politischen Umstände von damals richtig darzustellen?

Das Wort „Detailgetreue US-Doku-Fiction“ ist eine verbale Katastrophe. Kein Mensch der politische-, soziologische-, philosophische-, romantische- oder unterhaltungsgerechte Interessen verfolgt, kann sich von dieser Genre-Bezeichnung tatsächlich positiv angesprochen fühlen? Aber! Das Ergebnis „Chernobyl“ als epochales Ausrufezeichen der Ratlosigkeit ist im Serienspektrum und in dieser Form der modernen Erzählung tatsächlich einzigartig.

Häufig wurde bei Besprechungen zu der Serie „Chernobyl“ die Phrase „beste Serie der Welt“ verwendet. Auffällig häufig! Und es liegt auch daran, dass eigentlich jeder Zuschauer der die fünf Folgen gesehen hat schnell versteht, dass hier nicht nur ein historisches Drama gezeigt wird, sondern ein Kernthema unserer Zeit angesprochen wird, welches nicht nur den Klimawandel beinhaltet, sondern auch die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche der jeweiligen Zeit berücksichtigt.

Mit jeweiliger Zeit meine ich natürlich den damaligen Umbruch der Sowjetunion und die wichtige Gleichung und Erkenntnis, dass die heutigen Agenda-Punkte wie Globalisierung, Digitalisierung, Verschiebung der Interessen von West nach Ost etc., aber auch die menschlichen Makel wie Überforderung eines jeden Einzelnen lebenden Menschen bezugnehmend auf die Themen Entwicklung, Kommunikation und Institutionalisierung im Prinzip, gleich, geblieben sind.

In der atemberaubenden letzten Folge erfahren wir, was genau am 26. April 1986 passiert ist. Wir verfolgen den Unfallhergang nun gemeinsam mit den Verantwortlichen und Anklägern im Gerichtssaal. Ein kluger dramaturgischer Schachzug der Showrunner. Denn natürlich sind wir als Zuschauer -nach dem wir das Unglück detailgetreu verfolgt haben, die Menschen kennengelernt haben, die direkt betroffen waren, die unfähigen Wissenschaftler verachtend abgestraft und die sogenannten „Liquidatoren“ abgefeiert haben- auf eine Vergeltung aus.

Aber aus dem Vergeltungswunsch wird schnell Unfassbarkeit. Unfassbarkeit über Befehle und ein erzwungenes Himmelfahrtskommando, welches von dem erst distanzierten, dann aber geläuterten Politiker Boris Schtscherbina sehr früh und kongenial (leider auch) für diesen Text zusammengefasst wird: „Was wir nicht sehen, wissen wir nicht!“.

Die Spannung und das Maß an Authentizität der Serie ist oftmals unerträglich, da man hilflos vor dem Fernseher sitzt und seinen Gefühlen nicht mehr Herr wird.

Wir schreiben hier seit über 12 Jahren über Filme und Serien. Bei über 2.000 archivierten Artikeln und Notizen zu diesem Thema fällt es immer schwerer Superlativen zu finden. Vielleicht geht es auch gar nicht mehr darum welche zu finden? Vielleich ist es inzwischen interessanter zu hinterfragen und zu diskutieren, wie wertvoll und zugleich wichtig aktuelle Serienmeisterwerke wie „Chernobyl“ oder „When They See Us“ (Netflix) sind, wenn wir die Welt langsam aber sicher selbst nicht mehr verstehen, da uns diese Werke Botschaften vermitteln, die uns auf einer Ebene abholen, wie es kein Kommentar der klügsten Menschen oder keine noch so neutrale Nachricht des besten Fernsehsenders der Welt vermitteln kann.

Ich habe lange nicht mehr den Zustand des Vergessens über Schauspielerleistungen, Kamera- und Lichtpositionen, Einsatz von Musik gehabt. Lange nicht mehr einen Film/Serie gesehen, ohne über eine kontextuelle Vernetzung nachzudenken.

Denn ich habe die Serie „Chernobyl“ gesehen, die mir zu geschrien hat, dass wir alles anders machen müssen…SOFORT!

Aus Moskau

Alan Lomax

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