SCORPIO von Michael Winner - Teil IV der Retrospektive
Der 1973 in die Kinos gekommene Agententhriller spielt zur Zeit des kalten Krieges. Erzählt wird die Geschichte zweier Auftragskiller, die für die CIA arbeiten. Der alternde Agent Cross, gespielt von Burt Lancaster, hat über Jahre einen jungen Kollegen ausgebildet und seine Erfahrung an ihn weitergegeben. Sein Schüler Jean Laurier, verkörpert von Alain Delon, trägt den Decknamen Scorpio. Bereits in Paris hatte Laurier den Auftrag Cross zu liquideren, doch er verweigert die Ausführung, verunsichert über die Motive seiner Auftraggeber. Die sind der Auffassung Cross sei ein Doppel-Agent und habe die Agency jahrelang hintergegangen. Laurier bekommt Skrupel und stellt Cross zur Rede.
SCORPIO ist grossartige Unterhaltung! Filme dieser Art werden schon lange nicht mehr gedreht. Sie stammen aus einer anderen Ära: Den goldenen 70er Jahren. Jüngere Generationen mit den veränderten Sehgewohnheiten werden sich schwer tun ihn zu mögen, doch für Menschen wie mich, die in den 70ern gross und mit dem Kino dieser Zeit gross geworden sind, ist der Thriller ein Hochgenuss.
Allein die wunderschön gefilmte Titelsequenz verschlägt einem den Atem: Zum schönen Main Title von Jerry Fielding sieht man Burt Lancaster aus einem Hauseingang heraustreten, eine Zeitung am Kiosk kaufen und durch die Strassen von Paris schlendern. Was für eine Ästhetik! Kameraführung, der langsame Schnitt, die orchestrale Untermalung der Bilder! Ich drückte mich in den Sessel, atmete tief ein und genoss jede Sekunde des Films. Das vermag sicherlich nur jemand nachzuvollziehen, der auch in dieser Zeit seine Liebe zum Kino entdeckte, für alle anderen dürften solchen Sequenzen nichts weiter als Teile einer Filmhandlung sein.
Der Grund, warum ein Gefühl der Nostalgie aufkeimt, ist der, als dass Menschen wie Lomax und ich uns neben Filmen auch für Kultur im Allgemeinen, Musik, Architektur, Comics und so vieles mehr interessieren und Filme daher aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten: Wir sind amerikanophil, was das Kino angeht, aber wir lieben und verehren auch das französische Kino und wenn man Lancaster in Paris durch die Strassen gehen sieht, dann richtet sich unser Auge auch auf die Autos am Strassenrand, die schönen Citroen, die Geschäfte am Wegesrand, die Strassen, das mondäne Flair dieser Weltstadt. Es kommt Wehmut auf!
Die 70er Jahre: Ein goldenes Zeitalter des Kinos! SCORPIO gehört nicht in die Kategorie der Meisterwerke dieser Zeit, aber er ist ein perfektes Beispiel dafür, warum Menschen seit jeher ins Kino gegangen sind: Um sich gut unterhalten zu lassen, nicht mehr und nicht weniger.
Das tut der Film in jeder Minute. Wenn wir in diesem Blog häufig kritisieren, dass die Drehbuchautoren das Storytelling nicht mehr beherrschen, nicht mehr in der Lage sind gute Geschichten spannend zu erzählen, dann möge dieser Film ein Argument für diese These sein. Es ist die "ruhige" Erzählweise, die auch heute noch so fasziniert. Der Zuschauer wird an die Hand genommen und mit einem wunderbar dosierten Tempo in die Handlung eingeführt. Charakteren wird genug Raum gegeben sich zu entfalten, die Dialoge sind fesselnd, die Spannung wird über einen langen Erzählbogen gehalten.
SCORPIO bietet alles das, was man von einem Thriller aus der Ära des kalten Krieges erwarten darf: Agenten mit doppelten Identitäten, Hinterhöfe, Intrigen und Komplotte, zahlreiche Wendungen und am Ende sogar einen verblüffenden Twist. Der Film beginnt in Paris und führt über die halbe Welt nach Washington und Wien. Der urbane Kontrast macht einen weiteren, grossen Reiz des Films aus. Die Gegensätze zwischen der alten und neuen Welt könnten nicht grösser sein! Optisch grossartig, wie das Wien der damaligen Zeit eingefangen wurde. Ich wies auch in anderen Besprechungen bereits darauf hin: Durch diese Filme unternimmt man auch immer eine Zeitreise in die Vergangenheit!
Doch neben den genannten Aspekten bietet der Thriller auch erstklassig inszenierte Actionszenen. Ein Highlight ist die Verfolgungsjagd zwischen Lancaster und Delon auf einer Baustelle in Wien. Dass Burt Lancaster vor seinem Durchbruch im Kino Athlet, Akrobat und Zirkuskünstler war, erkennt man zweifelsfrei. Beeindruckend, mit welcher Geschicklichkeit und Artistik Lancaster die Stunts ausführt.
Überhaupt Burt Lancaster: Einer der ganz Grossen, der hier viel zu wenig besprochen wird. Ein Superstar der 50'er und 60'er Jahre, der mit nahezu allen Größen im Business gedreht hat (Fred Zinnemann, Stanley Kramer, Richard Brooks, Luchino Visconti, Louis Malle, Sam Peckinpah, die Liste ist lang) und über eine beeindruckende filmische Vita verfügt. Ich persönlich halte seine Darstellung des Joe Erin in Robert Aldrich's wegweisendem Western VERA CRUZ für eine seiner besten Rollen. Neben John Wayne, Gary Cooper und James Stewart war er einer der herausragenden Western-Darsteller.
Ich bin ein ganz grosser Bewunderer und Fan von Alain Delon, für mich einer der grössten Stars des Kinos. Nicht nur sein umwerfendes Aussehen ist beeindruckend, auch die Wahl seiner Regisseure und Filme, insbesondere seine beiden Filme mit Regisseur Jean-Pierre Melville zählen zu meinen All Time Favorites. Hier verkörpert er einen Killer mit tödlicher Präzision, der Zweifel an seinem Auftrag und die Bewunderung für seinen Lehrer überzeugend spielt. Superb seine Anzüge mit Mode der damaligen Zeit.
Die Paarung Lancaster - Delon: Ein Clou.
Jerry Fielding besitzt bei weitem nicht den Popularitätsgrad, wie andere Filmmusik-Komponisten und seine Filmmusiken werden bei Liebhabern der Filmmusik häufig als "sperrig" bezeichnet, was sie aber keineswegs sind. Er hatte einen Stil, der moderner Prägung war, nicht der klassischen Hollywood-Vorgabe verpflichtend und von einer gewissen Eigenwilligkeit. Man muss seine Musik immer im Zusammenhang mit den Bildern beurteilen, abseits der Bilder bieten sie nur dann ein grosses Vergnügen, wenn man sich von Erwartungen lösen und die Kompostionen mit Zuwendung geniessen kann. Ich schätze seine Scores sehr, er war der Haus- und Hofkomponist, wenn man so will, für Sam Peckinpah. Für Michael Winner vertonte er neben SCORPIO auch die Western LAWMAN und CHATO'S LAND. Die beiden letzteren wurden gerade als Reissue in begrenzter Stückzahl wieder aufgelegt, SCORPIO erschienen vor Jahren leider nur in einer sehr geringen Auflage von 1500 Kopien (!) weltweit. Es bleibt sehr zu hoffen, dass das Label Intrada die Musik neu auflegt! Fielding verwendete in seinen Scores auch immer wieder Stilmittel des Jazz und kombinierte sie mit Orchester und Band, was seinen Musiken eine besondere Attraktivität verleiht.
SCORPIO wurde von Koch Films Anfang 2019 auf Blu Ray veröffentlicht. Die Scheibe bietet neben dem Film eine isolierte Spur nur mit der Musik und einen wunderbaren und sehr hörenswerten Audiokommentar von drei leidenschaftlichen Kinogängern: Nick Redman, Julie Kirgo und Lem Dobbs zuzuhören, ist wie sich mit Freunden in einer Kneipe auszutauschen. Grossartig!
SCORPIO hat Klassiker-Status erreicht.
Der Actionthriller bietet hochklassige und ästhetische Unterhaltung mit zwei Superstars und ruft nostalgische, wehmütige und schöne Gefühle auf.
Er sei jedem ans Herz gelegt, der das Kino der 70er Jahre liebt.
Aus einem Zeitungskiosk in Paris,
Rick Deckard