THE KILLING OF A SACRED DEER - YORGOS LANTHIMOS

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  23. Mai 2018, 15:01  -  #Filme

THE KILLING OF A SACRED DEER - YORGOS LANTHIMOS

Zunächst einmal muss ich den jungen Schauspieler Barry Keoghan erwähnen. Der irische Darsteller hat eine große Zukunft vor sich, da er eine sehr spezielle Physiognomie hat. Nun muss ein Gesicht nicht zwingend etwas mit einem Charakter zu tun haben. Aber sind wir doch ehrlich: Wir beurteilen doch automatisch Menschen auf den ersten Blick! Der Blick auf Keoghan Gesicht vermittelt mir erstmal  Unglück. Schauspielerisches Können konnte man ihm bereits in Christopher Nolans DUNKIRK attestieren.

In dem Film des bemerkenswerten griechischen Regisseurs YORGOS LANTHIMOS provoziert er beim Zuschauer eine seltsame Mischung aus Freundlichkeit und Unbehagen. Keoghan katapultiert sich mit dieser Performance direkt in die Liste der 10 besten Darstellungen eines PSYCHOS in der Filmgeschichte. Bleiben wir bei den Schauspielern! Colin Farrell spielt einen merkwürdigen, leidenden und weichen Mann, der sehr vieldeutbar ist und seltsam abgehackte, extrem reduzierte Sätze ohne Inhalt spricht. Farrell hat einen sensationellen Vollbart. Der ihm fast vollständig sein Gesicht verdeckt und ihn nicht vor seinem schlechten Spiel schützt, sondern einfach noch merkwürdiger macht.

NICOLE KIDMAN ist wiedermal furios. Ihre merkwürdige unterdrückte androgyne Person, die klugen Augen und ihre ruhige Art, macht schnell nachvollziehbar, dass sie versucht die Familie, die von dem jungen PSYCHO erpresst wird, zusammenzuhalten und zu beschützen, scheitert aber furios. Die Zerbrechlichkeit und gleichzeitige völlige Desillusion noch ein interessanteres Leben zu führen, führen die KIDMAN in dem Film zu einer beinahnen Sexsequenz und einer kaum zu ertragenden. Die aber beide notwendig sind, um den Charakter der Augenärztin und Ehefrau des Chirurgen (Farrell) kongenial zu untermauern.

RAFFEY CASSIDY und SUNNY SULIJIC spielen die Kinder Kim und Bob des Ärztepaares. Im Sinne von Erziehungswerten, Hörigkeit zu den Eltern und dem Aufwuchs eines von völliger Lebensfreude entzogenen Lebens, wirkt die Qual die beide durchleben werden für beide fast wie ein dankbares Abenteuer bzw. eine Befreiung aus der Wirklichkeit.

Nach der völligen Begeisterung für das Hammer-Ensemble setzt sich die Story schnell zusammen: Der Herzchirurg, der mit der Augenärztin verheiratet ist, hat zwei pubertierende Kinder. Der Alltag der Familie wird völlig zerstört als auf einmal der halbweise Martin auftaucht und erst Schrecken, später Horror in die Familie bringt.

Ähnlich wie Hanekes radikaler FUNNY GAMES (1997) schockiert und provoziert dieser Streifen den Zuschauer bis auf die innersten Organe. Und ähnlich wie bei vielen großen Regisseuren gelingt es LANTHIMOS den Zuschauern überlegen zu sein.

Zwei Namen müssen erwähnt werden: HITCHCOCK hätte diesen Film geliebt, weil er über alle bisher gekannten Masse suggestiv ist und die Spannung kaum zu ertragen ist. Die schleichende Kamera, die sich meist hinter den Protagonisten bewegt, die kahlen, minimalistischen, fast sterilen Räume und Einrichtungselemente dominieren die Bildgestaltung, die mich persönlich häufig an die traumähnliche Wirkung von KUBRICKS vergessenen MEISTERWERK EYES WIDE SHUT erinnern.

Alles in diesem großen Film TKOSD ist furios, aber die wahrhaftige Faszination des Filmes liegt in den Störungsbildern und dem Ausblieben von Emotionen der herkömmlichen Art. Es macht einen machtlos, wenn man sich dieses von der Filmgeschichte schon jetzt niemals zu vergessende Ende ansieht. Und ohne zu spoilern, es macht einen noch macht- und hilfloser, wenn man sich Gedanken über die Sequenzen nach der im höchsten Massen kaum zu ertragen emotionalen Folter (FSK 16 Jahre) ansieht.

Jeder Film zur rechten Zeit. Schon jetzt kann man filmhistorisch notieren, das THE KILLING OF A SACRED DEER wohl zu den besten Filmen der unsagbaren Donald Trump Ära als Präsident gehören wird. Nun kann man auch vielleicht die Hypothese aufstellen, dass es in den USA schon immer so war und die Regel: Desto unerträglicher der Präsident, umso besser und radikaler die Entwicklung von reaktionären und progressiven Filmen ist.

Natürlich ist LANTHIMOS auch als Gleichnis zu sehen und als Tritt in den A… für die amerikanische Upperclass bzw. Klassengesellschaft zu verstehen. Somit muss man auch kein Historiker zu sein um sich an IPHIGENIE zu erinnern oder mal kurz über die antike Mythologie nachzulesen und was uns der Grieche in seinem Film über Agamemnon mitteilen will, der seine Tochter opfern soll, nach dem er sich gegen die Götter aufgelehnt hat und in deren Gebiet einen Hirsch getötet hat.

Und natürlich erinnere ich mich sofort an meine Lieblingssequenz aus der Serie SOPRANOS, in der Tony morgens am Pool in schwierigster Not, einen Hirsch trifft, anschließend von ihm träumt und ihn töten will. Und natürlich erinnere ich mich auch meinen Lieblingsfilm THE DEER HUNTER und an die großartige Sequenz, in der DE NIRO mit seinen Kumpels nach der Hochzeit und vor der Abreise in den Vietnam Krieg noch einmal in die Berge zur Hirschjagd fährt. Und dabei geht es nicht nur um die Reflektion des sinnlosen Töten von Tieren, sondern auch um das Leben in einer kaum zu ertragenden Gesellschaft und darum die richtige Flucht zu finden, um einiges ertragen zu können.  Wir erinnern uns: 1968 setzte sich Richard Nixon gegen Hubert. H. Humphrey und gegen Lyndon B. Johnson durch.

Ein paar Jahre später scheint das egal zu sein! Die Werte der gezeigten höheren Gesellschaft sind komplett kaputt. Es gibt noch einen Rest Anstand bzw. Emotion, der hin und wieder, aber auf seltsame Art und Weise bei der Arztfamilie durchsickert, aber eine Wertehaltung scheint sich nur auf Ausbildung, Beruf und Geld aufzubauen. Werte wie Musik, Geschichte für die sich Kim und Bob interessieren, werden zwar geduldet, aber nicht anerkannt. Totale Freudlosigkeit leben nicht nur die Eltern vor, die sich lediglich dafür interessieren, dass die Buchsbäume gegossen werden oder das man im Besitz einer Uhr ist, die bei 200 m Tiefe wasserfest bleibt oder man den wöchentlichen Sex unter der Überschrift „Vollnarkose“ betreibt.

Einfach gemacht wird einem in diesem Film überhaupt gar nichts. Denn natürlich ist auch der Täter, gleichzeitig das größte Opfer bzw. wie er selbst feststellt nur eine Metapher und zwar eine Metapher der Gesellschaft die sich an sich selbst rächt.

THE KILLING OF A SACRED DEER ist von so einer Wucht und Einzigartigkeit geprägt, von so vielen weitergedachten Anleihen der Filmgeschichte versehen Logik ausgestattet und ist so Multiple (Beuys) zum Nachdenken verleitend und in der Spannung und der Suspense und somit vom Unterhaltungsgrad her stimmig, dass er auf einem Scoreboard mit 10 Kästchen zum Ankreuzen der Genialität einzelner großartiger Filmattribute von mir zehn Häkchen bekommt und in die TOP 5 meiner derzeitigen Lieblingsfilme aufsteigt.

Ich habe lange benötigt um zu verstehen, was Mitblogger Rick Deckard vor einiger Zeit gegen die Erzählweise und –länge von Serien geschrieben hat. Vielleicht habe ich mich auch dagegen innerlich gewährt. Nach dem ich diesen Film gesehen habe, habe ich aber endgültig verstanden, zu welcher Macht, Intensivität und Möglichkeit der Reflexion ein filmisches Meisterwerk in der Lage ist. Natürlich ist diese Erkenntnis auch nicht neu, dass gebe ich kleinlaut zu, aber es ist eben auch wichtig, dass man einige Dinge hin und wieder mal hinterfragt und an die Größe seiner Kraft erinnert wird.

AUS DEM KINO

ALAN LOMAX

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