Moers Festival - 12. Juni 2011

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  13. Juni 2011, 10:32  -  #Jazz

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Es gibt ja Leute die sagen: "Ich mag kein Jazz!". Früher habe ich diese Aussage nie verstanden? Heute weiß ich, dass diese Aussage bloßer Unfug ist und gebe gerne zur Antwort: "Welche Art von Jazz magst Du denn nicht?".

Über den Inhalt dieser Worte haben Deckard und ich hier schon oft geschrieben und oft nachgedacht. Im Prinzip gibt es zu diesen scheinbar einfachen ersten Worten zwei Haltungen: Die des Puristen bzw. der der Jazzpolizei, die positiv gesagt, die "Bewahrer" sind und es gibt die des toleranten Musikliebhabers, der verstanden hat, das Jazz etwas mit der Vermischung von Musiktraditionen zu tun hat und als einziges zeitgenössisches Musikgenre in der Lage ist, neue Dimensionen zu öffnen.

Erlebt man nun einen ganzen Tag das Jazzfestival in Moers, dann wird man sich dieser scheinbar einfachen Aussage etwas klarer, auch dann, wenn man sich Gedanken über das Kuratorium und dem Konzept des Line-Ups Gedanken macht. Zwei gespalten, wie der Jazz nun mal ist, kann man auch hier wieder zwei unterschiedliche Sichtweisen haben. Die eine wäre dann Konzeptionslosigkeit (aus der Sicht der Puristen), die andere wäre Mut und Spreizung der musikalischen Extreme. Müßig also, darüber nachzudenken, mit welchen Problemen die Festivalmacher um den Künstlerischen Leiter Reiner Michalke zu kämpfen haben. Geld, Zeit, kommunale Politik, Umwelt, Macht und Neid. Schwierig muss es also sein, so ein Festival zu stemmen, insofern liegt es mir fern, die erste Sichtweise der Konzeptionslosigkeit zu vertreten.

Die Zusammenstellung der Künstler an diesem Pfingstsonntag ist dann also enorm vielfältig. Wie man auf diesen Seiten des blogs nachlesen kann, besuchen wir viele Konzerte. Untermauert und bewiesen werden kann, dass ich wohl viel erlebt habe. Allerdings noch nie soviel Toleranz und Willen zum Zuhören, wie bei diesem Festival erlebt habe. 

Zwei gewagte Beispiele? Gerne:

 

 

Erstaunlich, oder? Bei dem ersten Video handelt es sich um die norwegische Band Monolithic um den DSC02185.JPGMotorpsycho Schlagzeuger Kenneth Kapstad und bei dem zweiten Video um die amerikanische Erfolgsband The Golden Palominos, die natürlich nicht mehr in ihrer Originalbesetzung spielen. Was auch einem mittelschweren Spektakel gleich käme, weil dann John Zorn, Arto Lindsay, Bill Laswell und Fred Frith gemeinsam auf der Bühne gestanden hätten. So bliebt lediglich Anton Frier übrig. 

Trotzdem spiegeln diese beiden Bands die enorme Bandbreite und die emphatische Fähigkeit des Publikums des Festivals wieder.

Das gesamte Programm und einen Rückblick kann man übrigens auch hier nachlesen: www.moers-festival.de

Ich bin wie ein Tank, irgendwann geht keine Musik mehr in mich rein und ich merke, dass ich Pausen benötige. Insbesondere bei Festivals! Unmöglich dann auch, sich alles konzentriert anzuhören. Zu wenigen Prozent habe ich den kultivierten und fast klassischen Jazz des "Tia Fuller Quartets" und die unglaubliche Möglichkeit zu grooven bei dem famosen "Seun Kuti & Egypt 80" (zu der aktuellen Platte des afrikanischen Superstars bald mehr) mitbekommen. Konzentriert habe ich mich aber auf folgendes:

ornettecoleman_4_jk.jpg...und dann sind wir auch schon wieder direkt beim Diskurs! "Lasst uns die Musik spielen - und nicht ihren Hintergrund" hat Ornette Coleman Ende der fünfziger Jahre formuliert. Interessant wäre es also zu wissen, was er von dem gesamten Festival und der Musikzusammenstellung hält und natürlich wie er den Jazz im neuen Jahrhundert versteht.

Interviews wird es wohl nicht geben, somit bleibt uns nur der Eindruck, seiner Musik. Wenn man den früheren Coleman und die abgegriffene Begrifflichkeit "Free" deuten möchte, sollte man verstehen, dass Coleman einmal Jazz gespielt hat, um jegliche Art von Regeln in Frage zustellen. Konzentrieren tut er sich heute live dann auch mehr der Betonung von Energie und Intensität als auf das kommunikative Element, also wieder zurück zur klassischen Urform. Coleman ist ein sichtbar alter Mann. Er ist einer der letzen Bewahrer der alten Generation. Einer der ganz großen. Umso bewegender also der Moment, als er endlich vor uns steht. So eine Legende muss sich nicht mehr viel erspielen. Alles wird ihm verziehen, auch, dass er in seiner Altersmilde, seine alten Werte und mathematischen Musikformeln über Bord geworfen hat. Somit spielt er an diesem Abend auch ehr einen klassischen Ansatz, der einzig von seinem Sohn Denerdo Coleman am Schlagzeug durch ständiges gegen anspielen wunderbar gestört wird. Überhaupt ist es vielleicht ehr die Aufhebung der Rollenverteilung, die noch an die alten Free-Jazzwerte erinnern. Mit zwei Bässen (Kontra und E-) ist die Band auch ehr ungewöhnlich besetzt. Der alte Mann Coleman, allerdings hat viel Humor. So lässt er dann auch Tony Falanga seine Basslines sehr klassisch spielen und dem "jungen" Al Mac Dowell, gesteht er auch ein paar funkige Riffs zu. Die lyrischen Momente des Saxophone von Coleman, gehören zu den schönsten Musikmomenten an die ich mich derzeit erinnern kann. Ornette Coleman, der in der Nachbarschaft des Jazz groß geworden ist, die Welt neu entdeckte, kommt nun am Ende seines Lebens, zurück zu seinen Wurzeln. Man kann nur dankbar sein, dass man diesen famosen Auftritt miterleben durfte.

Ebenso, wie das großartige Eröffnungsbrett der 25-köpfigen Band (Orchester?) The Dorf aus Dortmund. Ein Projekt des Komponisten Jan Klare, dass seine Wurzeln im Dortmunder Jazzclub Domizil hat. Dort treffen sich die Musiker einmal im Monat, um zusammen wegweisenden und wirklich modernen Jazz zu spielen. Und zwar im Sinne der großen Vielfalt des bereits am Anfang angesprochenen Genres. Das besondere ist, dass die Musik sich aus einem großen Pool rekrutieren und somit wie ein "Marktplatz" funktioniert. Immer wieder wechselt die Besetzung und somit auch der Sound und die Möglichkeiten einer Big Band. Das Potenzial ist dieser Formation ist riesig und man kann nur hoffen, dass die Fortführung nicht an logistischen und finanziellen Nöten scheitert.

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Somit steht der Opening-Act "The Dorf" auch für die gesamte politische Problematik der Jazzmusik im Jahr 2012 und vielleicht auch seiner Hörerschaft, die natürlich auch eine soziodemografische Veränderung mitmacht. Andererseits auch für Spielfreude, künstlerische Möglichkeiten und Weitsichtigkeit steht. Vielleicht genau auch die Attribute, die so ein Festival benötigt und noch lebt.


http://www.thedorf.net/index.php?section=Musik

Alan Lomax

Bilder "The Dorf" und "Monolithic" Alan Lomax Foundation

 

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