Inodchine Live 26.06. 2010 Paris Stade de France – Konzert

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  28. Juni 2010, 11:01  -  #Konzerte

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Vergleiche, Erwartungshaltung, Euphorie, Vorfreude! Alles wird dann anders als man sich so ein lang angekündigtes Konzert vorgestellt hat. Hätte man meinen Ablauf und meine Aktivitäten an diesem Abend auf einer der großen Videoleinwände gezeigt, hätte man sehr viel Aktivitäten beobachtet, die vielleicht auch mit „mangelnder Konzentration“  kommentiert werden könnte. Hin und her laufen, Bier holen, Fotos machen, wieder Bier holen, wieder hin und her, wieder Fotos und Filme machen. Eine unruhige Angelegenheit. Insbesondere da „wir“ die einzigen Menschen unter 60.000 Zuschauern waren, die diese Laufbereitschaft/Unruhe auf der Tribüne an den Tag gelegt haben. Der Franzose trinkt kein Bier während eines Konzertes, was dadurch bewiesen werden kann, da meine Reisegruppe und ich  nicht ein einziges Mal am Biertresen anstehen musste! Überhaupt scheint Indochine für die Franzosen eine besondere Bedeutung zu haben. Selten habe ich ein so bewegtes Publikum gesehen. 

Und genau das ist der zentrale Punkt meiner verhaltenen Euphorie bezüglich der Qualität des Konzertes. Ich verstehe die französische Sprache nicht und somit verstehe ich auch die kollektive Persönlichkeit der Band Indochine nicht, die sich bei den Franzosen offensichtlich tief ins Herz bohrt. Ich habe mich somit nicht verleiten lassen, mich dem Augenblick hinzugeben, sondern habe nachgedacht, über die Seele einer Nation. 

Denn es muss so sein: Genauso wie wir Menschen eine Seele haben, hat auch jede Gruppe, ein Dorf, eine Stadt oder eine Nation, ihre eigene Seele, ein bewusstes Sein, dass direkt mit etwas höherem verbunden sein muss. Natürlich wird eine Nation nicht ausschließlich durch ihre geographischen Grenzen geformt, auch wird sie nicht nur aus der Summe der in ihren Grenzen lebenden Menschen gebildet.

Die Seele kann eine zeitgenössische Band wie Indochine sein, die bereits zu Lebzeiten die Seele einer Nation, kollektiv bis in den Mainstream erobert. 

Das kann aber auch im Fall von Frankreich eine Legende wie Charles Trenet sein. Der Schauspieler, Sänger und Komponist hat bis vor dem zweiten Weltkrieg einige bedeutende französischen Lieder gesungen, die „Seele der Nation“ dann nach Hollywood getragen. Dort hat er mit der Zusammenarbeit mit den Architekten der amerikanischen Popkultur, wie Louis Armstrong und George Gershwin zusammen gearbeitet und in den folgenden 15 Jahren ordentlich dafür gesorgt, den Amerikaner, den Mythos Frankreich und Paris für die Unterhaltungsindustrie zu verkaufen. Als Trenet 1954 nach Paris zurückkehrte, wurde er gefeiert. Die Franzosen haben seinen Stellenwert verstanden. Sogar unser geliebter Comickünstler Hergé griff einen Chanson von Trenet (Boum!) auf und nutze ihn als Motiv für seine Geschichte „Tim und Struppi – Im Reich des Schwarzen Goldes“. Ein wichtiges Modul zu dem Thema, Franzosen und ihre Liebe zur eigenen Kultur, wenn man den verankerten Stellenwert der Comickunst im französischen Alltag entdeckt hat. 

Charles Trenet Songs wurden im Vorfeld des Indochine Auftritt nicht zufällig aufgelegt. Die Seele der Nation wurde eingestimmt auf ein französisches Fest. Trenet, Inochine, Comickunst, Film, Literatur, die Sprache, die große Kunst einer großen Nation, wird von einer bewussten Seele belebt, einer Art kollektiver Persönlichkeit, die genau wie die Seele des Menschen hinter allen äußeren Leben formenden Entwicklungsbewegung steht und ihre politische, ökonomische, soziale oder kulturelle Konstitution bildet. 

Vielleicht etwas hoch geflogen, aber für mich wichtig zur Erinnerung! Schließlich ging es hier mal um den Vergleich zweier großer Bands. Wobei ich mir seit Samstag sicher bin, dass Kent im Sinne eines nationalen Bewusstseins in einer anderen Liga spielen. Kent sprechen doch ehr ein musikalisch interessiertes Publikum an. 

Nicola Sirkis, der Sänger und Gründer der Band ist ein nationaler Volksheld. Auch wenn ich die soziokulturellen Milieus in Frankreich nicht kenne und diese mit den deutschen Milieus (andere Werte, andere Lebenswelten) nicht vergleichbar sind, so kann man doch mit Sicherheit sagen, dass unter den Zuschauern so ungefähr jeder Volksvertreter, aus jeder Schicht vertreten war. Die Zeitschrift Visions schrieb im Mai 2003, dass Indochine in Frankreich einen Stellenwert hätte, der mit dem von Herbert Grönemeyer in Deutschland vergleichbar wäre. Vielleicht eine richtige Feststellung, wenn man die künstlerische Vision und musikalische Qualität beider Musiker in einer möglichen Diskussion ausblendet. 

Nicola Sirkis, wirkt jugendlich, aufmerksam, ist aber auch bewegt, wegen der unglaublichen Kulisse des Stade de France und der unfassbaren Zuschauerzahl. Zwischenzeitlich sieht man ihn Tränen wischen. Verständlich! 

Vielleicht spricht Nicola Sirkis bei den Franzosen den gesunden Geist, das warme Herz an, vielleicht erschafft er ein Moralbewusstsein, vielleicht setzt er Kräfte in den Menschen frei, die für eine Nation legitim sind, aber für mich nicht nachvollziehbar sind, da ich weder ihre Sprache spreche, noch deren Geist verstehe. Schade für mich und für meine Seele, die auch immer eine Erklärung haben möchte. Andererseits auch mit viel Leidenschaft ausgestattet ist. Zumindest genügend um zu verstehen, dass hier etwas besonderes passiert ist und ich einen weiteren unvergesslichen Tag in meinem Leben habe!

Alan Lomax

 

 

 

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