Frank Chastenier - Songs I've Always Loved

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  21. September 2010, 20:58  -  #Jazz

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Ich mag keine Modewörter, aber im Falle des neuen Albums von Frank Chastenier passt in diesem Zusammenhang eines dieser Wörter sehr gut, bzw. ist es passend: Entschleunigung. Entweder man nimmt an Fahrt auf und beschleunigt oder das Gegenteil ist der Fall. Im Jazz ist es häufig so, dass die Mitglieder eines Ensembles nachdem ein Thema aufgenommen wurde beginnen zu improvisieren und an Tempo aufnehmen. Diese Beschleunigung ist in den meisten Fällen mitreissend und von mir auch häufig gesucht und gewollt. Heute aber nach all den sehr anstrengenden und aufreibenden vergangenen Monaten suchte ich nur nach einem: Pulsverlangsamung, Genuss und Ruhe. Die Zeit ist ein so irrwitziger Faktor im Alltag fast eines jeden Menschen geworden, dass die Sehnsucht nach einem Ruhepol wächst. Das war ein Beweggrund dieses Album zu hören, still und leise rief aber auch der Jazz tief im Inneren verborgen nach Aufmerksamkeit. Jazz. Eine Musikrichtung, die ich lange vernachlässigt habe.

Es ist bereits einige Jahre her, dass ich auf das Album 'For You' des gleichnamigen Künstlers aufmerksam wurde und welches seitdem einen hohen Stellenwert in meinem musikalischen Kosmos geniesst. Als ich gestern die Neuveröffentlichungen überflog nahm ich mit Freude zur Kenntnis, dass Chastenier ein neues Album veröffentlicht hat und bevor ich es lud und heute hörte machte ich mir zunächst viele Gedanken, noch bevor ich überhaupt einen Ton gehört hatte: es heisst 'Songs I've Always loved'. Ich versuchte in meinem Gedächtnis zu kramen und überlegte, ob mir mehr oder minder auf Anhieb Songs einfallen würden, die ich auch immer geliebt habe und stellte fest, dass das überhaupt nicht einfach ist.

Als ich Recherchen anstellte stolperte ich über ein Wort was mir persönlich sehr gut gefiel: Audiobiografie. Er selbst sagt, dass dieses Album 'einen Soundtrack seiner Lebensabschnitte ergebe'. Eine einfache und doch wunderbare Idee! Also fing ich an seine Lebensabschnitte musikalisch an Hand seiner ausgesuchten Songs nachzuvollziehen. Das Spektrum ist sehr weiträumig und stilistisch sehr diversifiziert. Das Album beginnt mit einer Interpretation von 'Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt' komponiert von Friedrich Hollaender. Mit Beginn dieses Liedes kommt auch die Idee und der Anspruch sofort zum Vorschein: der Ton ist wichtig. Mit leisen, weichen und sehr bedacht gewählten Tönen und Harmonien wird dieser Evergreen interpretiert und die Art und Weise wie Chastenier und seine Sidemen John Goldsby am Bass und Hans Dekker am Schlagzeug spielen, lässt die Freude am Jazz wieder wachsen.

Dass, was am Jazz immer wieder beeindruckt, nämlich Improvisation und Tonbildung kann man bei diesem Album in Slow Motion nachvollziehen und es ist faszinierend zu hören, wie die Rhythmusinstrumente dem Interpreten am Klavier folgen, ihn begleiten, verstärken und mit ihm harmonieren. Das schöne hierbei ist, dass die Musik in ihrem Ergebnis dabei sehr beruhigend wirkt und einlädt mit auf diese Reise zu gehen. Erstaunlich hierbei, wie zeitlos der Song von Hollaender ist. Wüsste man es nicht, käme man nie auf die Idee zu vermuten, wie "alt" er tatsächlich ist. Er wirkt in der Interpretation von Chastenier geradezu hochmodern.

Es folgt 'Mornin', welches ich zuerst auf dem Album 'Givin' It Up' von George Benson und Al Jarreau das erste Mal hörte und es mir sofort zusagte, weil es diese Frische und aufkeimende Stimmung besass. Dass es möglich ist den Groove und Drive dieses Songs zu reduzieren hätte ich nicht geglaubt. Es funktioniert aber in der hier gehörten Version. Wenn dann auch noch Streicher die Gruppe umgarnen hebt dieser Track natürlich umgehend in die Sphären, die dieses berühmte Kribbeln in der Magengegend verursachen. Wunderbar!

Wie sollte es anders sein. Amerikanische Komponisten einer vergangenen Ära sind noch immer aktuell. In diesem Fall Johnny Burke & Jimmy van Heusen. Die Songs des letzteren wurde von einem Herren aus Hoboken, New Jersey in perfekter Manier gesungen. Schön, dass man wieder einen Song von Jimmy van Heusen hören konnte, namentlich 'But Beautiful'. Es gibt 3 französische Songs die Chastenier auf dem Album interpretiert, angefangen mit 'Je ne regrette rien' (Musik Charles Dumont, Lyrics von Michel Vaucaire), 'Ella Elle L'a' (!) von Michel Berger und 'Ne me quitte pas' von dem legendären Jaques Brel. Auch hier zeigt sich der Stil des Musikers Chastenier, der sich förmlich die Zeit nimmt dem Song in seiner Eigenheit auf die Spur zu kommen. Der einzelne Ton und die Verbindung von Tönen gewinnt an Bedeutung. Wie wichtig Töne sind wird hier einem wieder bewusst, hört man sie doch in den allermeisten Fällen in einer schnellen Abfolge.

Das Album wird vervollständigt mit einer Eigenkomposition, 'Little Prelude', sowie 'Die kleine Stadt will schlafen gehen' von Werner Bochmann und Martha Bergner und am Ende mit dem betörend schönen 'Dein ist mein ganzes Herz' von Franz Lehár. Das mir im Leben irgendwann einmal ein Lied von Lehar gefallen würde hielt ich für höchst unwahrscheinlich. Nun höre ich diese Musik, bei der wieder das Ensemble von Streichern begleitet wird und bin begeistert. Ohne das Original zu kennen, allein die Interpretation beurteilend muss ich gestehen, dass das der definitive Höhepunkt des Albums ist.

Der Jazz ist angekommen im September des Jahres 2010 und er wurde sanft, lyrisch und auf sehr sensible Art in mein Zimmer gelassen. Der Herr, der da oben auf der Bank entspannt liegt und sich freut ist "Schuld daran".

Ein wunderschönes Album. Merkwürdigerweise musste ich immer wieder an Miles Davis denken, der ja auch immer den Ton als so wichtig empfand. Die Kreise schliessen sich, so auch heute als ich las, welche Musiker den sehr jungen Chastenier motivierten Klavier zu spielen: Oscar Peterson, Count Basie und Keith Jarrett.

Ich liebe Musik.

Rick Deckard

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