Haldern Pop 2021 – Review von Alan Lomax

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  28. September 2021, 15:04  -  #674.fm, #Alan Lomax Blog, #Elektronische Musik, #Essay, #Festivals, #Haldern Pop, #Independent Musik, #Kommunikation, #Populäre Musik, #Radio

Haldern Pop 2021 – Review von Alan Lomax

Es ist diese Wucht. Der Schwung einer kurzen heftigen Bewegung. Es ist der Schlüsselmoment an diesem Samstagnachmittag im August 2021 auf der Marktplatzbühne mitten im Dorf Haldern. Wir stehen zwischen dem Restaurant Doppeladler und der Haldern Pop Bar, als der britische Songwriter Sam Berridge seinen Song „Save Me“ singt. Und alles ist auf einmal aus Gold.

 Dieser magische Moment dürfte vielen Menschen die das Haldern Pop Festival kennen bekannt sein. Auch wenn sie in diesem Jahr nicht am Niederrhein waren. Es ist der Zeitpunkt, an dem alles eins wird und ein wundersamer gemeinsamer Frieden des Konsens bei Zuschauer, Künstlern und Festivalmachern eintritt. Mit der Vehemenz, in der alle Aufregung verschwindet, all der Stress und all die Spannung verloren geht. Auch Sam Berridge wirkt während seines mittlerweile dritten Auftritts innerhalb von zwei Tagen entspannter und angekommen.

Donnerstags wirkte die ganze Idee Haldern Pop 2021 noch etwas unruhiger. Aufgeregt wie vor einer Klassenfahrt. Niemand kannte seine Plätze.  Alle Wege waren neu. Selbst die in all‘ den Jahren erprobten Bühnen standen nicht an den üblichen Plätzen. Alles hat sich verändert. Alles wurde neu! Aber die äußerliche Gelassenheit der Organisatoren, die Professionalität der Helfer, Techniker und Supporter und die langjährige Erfahrung mit allen Arten von Stürmen, Wolkenbrüchen und kleineren Katastrophen umzugehen, machten sich bezahlt.

Die verschiedenen Bühnen in diesem Jahr, waren an versteckten bis seltenen Orten aufgebaut. Mir wurde das in dem Moment klar, als ich selbst nach der Wald Schloss Bühne fragte und mir ein bekannter Lokaler sagte: „Dat finste’ nie!“.  Zum Glück musste ich das auch nicht auch nicht alleine. Denn es gab sog. Scouts, die die einzelnen Gruppen, aufgeteilt nach „Wandern“, „Fahrrad“ und „Marktplatz“, wohl gelaunt anführten und pünktlich zu den einzelnen Locations brachten.

„Wir waren bis nach Duisburg“ sagte mir am Freitag ein bekannter deutscher Popstar aus Hamburg. Selbstverständlich muss das übertrieben gewesen sein; …stellte die Aussage, aber eindeutig die Euphorie des Großstädters dar, endlich mal rausgekommen zu sein und nicht nur wunderbare neue Bands kennen gelernt, sondern im vollen Pauschalpaket, auch noch den wunderschönen Niederrhein erlebt zu haben. Somit kann die Frage der Möglichkeiten, der Veränderung also endgültig mit einem Ja! beantwortet werden. Die Dringlichkeit bis hin zur Entscheidung wird Mensch, Gesellschaft, Anspruch, Wirklichkeit und Zeit beantworten müssen.

Zurück in die nahliegende Vergangenheit: Die erste neue Band, die auf der versteckten Bühne Wald Schloss spielen durfte, waren das Kölner Duo Fovos Alif.  Eine wahrhaftige Herausforderung für die zwei jungen Musiker, denn dies Bühne war ein Middle Stage. Das Publikum entsprechend  im Kreis drum herum. In welche Richtung also singen? Eine schwere Entscheidung für Sänger Louis Jörns. „Zeig uns Dein Kapital“ ruft ein Zuschauer hinter seinem Rücken. Die restlichen Zuschauer des Polygones wissen, was der Mann im Schatten des jungen Sängers verpasste. Dieser konterte mit: „Ist ja nicht schlimm“ und nutzt diesen Satz, um alle kleinen Unebenheiten des ansonsten vielversprechenden Sets, in bester Crooner Manier auszugleichen. Fovos Alif spielten einige Cover (Current Joys und Phoebe Bridgers) sowie wundersame eigene Songs, u. a. auch den heimlichen Hit "2043". Das Publikum ist dankbar, hört entspannt zu und ist erfreut über jede einzelne dieser wunderbaren Popperlen zwischen BossaNova, Experimentellen Pop und PostPunk. Eine erste Entdeckung.

Am Ende des ersten Tages treffen sich Wander- und Fahrradgruppe vor der Reinders Bühne. Diese Bühne ist recht groß, entspricht aber trotzdem im Zuschauerraum allen 3G Regeln. Die französische Band Catastrophe wäre auch bei einem „normalen“ Haldern zu den Superstars des Wochenendes gezählt worden. Ihre Interpretation französischer Popmusik zwischen French Disko und dem starken Einfluss von Bertrand Burgalat und Etienne Daho muss ab sofort zu den Klassikern der French Avantgarde gezählt werden. Und trotz aller progressiver Darstellung, mit oftmals schwer zu akzeptierenden Musicaleinlagen, ist es wunderbare Unterhaltung. Eine Doublette der Popmusik, mit wenig direkten Vergleichen zu diesem Zeitpunkt.

Einem direkten Vergleich wird sich auch die japanische Band Kikagaku Moyo nicht so schnell aussetzen lassen müssen. Bereits zum zweiten Mal nach 2019 spielt das sehr psychedelisierte, krautige und (nach meiner Meinung) dem 70er Jahre Fusion-Jazz-Esemble verordnete Quintett ein Set der musikalischen Superlative.

Die musikalischen Höhepunkte des Freitags waren die Festivaleigenen Produktionen. Zum einen hat die New Yorker Band Dirty Projektors gemeinsam mit dem Stargaze Orchester unter Leitung von André De Ridder einen Liederzyklus von Gustav Mahler dargeboten. Selbstverständlich mit allen Belangen des modernen Verständnisses für Genres und poptextuellen Empfehlungen der letzten 100 Jahre. Ein furioser, einmaliger Auftritt. Außerdem begeistertet das Schlagzeugduo 9 Millisekunden gemeinsam mit der amerikanischen Sängerin Kesswa in der Kirche.  Simon Popp und Florian König sind bekannt. Der eine ein erfahrener Studio- und Orchester Drummer, der andere u. a. Schlagzeuger des deutschen Rap-Superstars CRO. 9 MS haben gerade ihr Debutalbum „Plaets“ veröffentlich. Ein minimalistischer Ritt zwischen analogen Beats und elektronischen Sensoren, Hall und Effektgeräten. Live ein Erlebnis.

So erlebnisreich, dass die beiden am Samstagnachmittag ein zweites Mal auftreten dürfen, obwohl CRO in Berlin auf seinen Schlagzeuger wartet, um die kommende Tour vorzubereiten. Gut, dass er warten konnte. Der 9 MS Auftritt zählt zu den großen Verbindungsauftritten der diesjährigen Bands, denn stilistisch, muss diese Minimal Music für die Bewegungsfreiheit der Musik im Jahr 2021 stehen. Ein ausführliches Interview sowie das komplette Konzert können Sie demnächst auf 674FM nach hören.

Wie immer, ist es leider nicht möglich, alle Weine zu kosten. Eigentlich schade, denn es sind, wie immer beim Haldern Pop nicht nur die großen Lagen, sondern auch die experimentellen und weniger bekannten Reben, wie der Akkordeon Künstler Yegor Zabelov, der dänische Sänger Elia Bender Ronnefelt (Iceage) oder die Band International Music aus Essen.

Die Aussage, dass in diesem Jahr die Kunst bzw. die Musik nicht im Haldern Pop Mittelpunkt stand, hat überhaupt kein Bestand. Und selbst die schmerzhaften Absagen von Jelly Cleaver oder Black Country, New Road, konnte das furiose ganzheitliche Line-Up kompensieren.

Nach dem also der Freitag zu Ende ging, die Menschen tolle Begegnungen gehabt hatten, die Halderner Festivalmacher mehr und mehr Farbe ins Gesicht zurückbekamen, nickten sich die Musikliebhaber geflissentlich zu. Nach all dem Schönen und Großen des Tages war es dann eine Wohltat, der Kälte und innere Körperkraft der Band Trupa Trupa aus Danzig zu bewundern. Und obwohl die Wirkung „Well, it did not take place!“ sicherlich schwer zu erweitern ist, wurde die wunderbare Nacht von vielen genutzt, um in die Gärten der Dorfbewohner zu fallen. Diese hatten sich lange auf den Besuch vorbereitet und wussten ziemlich genau, dass viele nicht nur auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen vorbeikommen wollten.

Ebenso charmant wurde der Samstagabend mit der großen Marktplatz-Revue beendet. Eine Art Superband mit allen verbliebenden Musikern spielte gemeinsam auf einer Bühne auf. Nach diesem Ereignisreichen Tag bekam ich hier allerdings nur noch Sequenzen mit. Denn die langen Takes tagsüber, hatten mich frühzeitig emotional und inhaltlich bereits erschlagen.  

Dass es wieder mal eine Hip-Hop-Künstlerin war, ist beim Haldern Pop inzwischen auch kein besonderer Hint mehr. Angefangen hatte es vor langer Zeit mit dem inzwischen mythischen Auftritt von KELIS. Unvergesslich aber auch die jüngeren Auftritte von Kate Tempest und natürlich Loyle Carner. Die irische Rap- und Neo-Soul Künstlerin Denise Chaila stellt sich nun direkt in diese Reihe.

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Bereits in meiner Vorbereitungsphase für das Festival und 674FM hat sich ihre Platte „Go Bravely“ in meine DNA eingespielt und der Song CHAILA ist mein Sommerhit geworden.  Denise Chaila hatte ihren ersten Europa-Auftritt in Haldern überhaupt und wir durften mit 674FM das erste Interview außerhalb der Inseln in Europa überhaupt führen. Im Garten der Popbar haben wir uns über unsere gemeinsame Liebe zum Hip-Hop, zu Irland und wie Musik und Kunst und die Gesamtheit der Leidenschaft für Gerechtigkeit und ein zu einem besseren Leben führen kann, unterhalten.

Ihr Auftritt am frühen Samstagabend war dann mein persönliches Highlight des Wochenendes. Denise Chaila unterstrich insbesondere die Wichtigkeit im Moment zu sein, diesen zu genießen und bei all’ der Freude über den Moment nicht zu vergessen, dass alles eine Chance ist, wir unser Leben multiperspektivisch betrachtet müssen.

Denise Chaila ist der Upcoming Rising Star am UK-Rap-Himmel und sie hat auch bereits die Pforten für die nächsten Jahre geöffnet und den Gedankenkanal geöffnet, dass wir alle Künstler*innen benötigen, die ihre Vielfalt und Dimensionen ausdrücken können. Denise Chaila bedankte sich während des Sets bei 674FM. Dem unabhängigen Radiosender aus Köln, der das Konzert live übertragen hat, mit den Worten 674FM ….FOR REAL! Das hat uns sehr, sehr gefreut…

„For Real“! Diesen Geist, diesen Spirit hat das Haldern Pop Festival immer gefördert und unterstützt, in diesem Jahr sogar ein klein wenig mehr als sonst und noch charmanter und unbekümmerter.

674FM, Haldern Pop …FOR REAL

Alan Lomax

For

Denise Chaila, Stefan Reichmann & Crew, Richard Forster, Alexander Schneck Schröder

Blogautor, Radiomoderator Alan Lomax besucht das Haldern Pop Festival seit 1999 mit seinen Freunden. Für 674FM macht er zusammen mit diesen Freunden die Sendung musikabend und das Haldern Pop Festival Radio.  Viele alte Reviews des Haldern Pop Festivals stehen im Archiv von www.lomax-deckard.de.

Auf 674FM wird es bald eine ausführliche Nachberichterstattung des Haldern Pop Festivals 2021 mit Interviews, Reportagen und Konzertaufnahmen in voller Länge geben.

Stay Tuned!

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