Ewings definitive Top 5 des Jahres 2021

von John Ross Ewing  -  28. Dezember 2021, 09:06  -  #674FM, #Feuilleton, #Got my eyes on you - Ewings Kolumne, #Independent Musik, #Jazz, #Popmusik, #Populäre Musik, #radio, #playlist

Ewings definitive Top 5 des Jahres 2021

Lesen Sie EWINGS definitive TOP 5 des Jahres 2021. EWING ist Gründungsmitglied des musikabends, Sammler & Experte für Popkultur, Bro und DJ. Zudem schreibt er für den Alan Lomax Blog (leider viel zu selten;-) über Konzerte und Musik. 

 

 

Die Zweifel haben gegen die Hoffnung gewonnen. Und wenn man das positiv konnotiert, halten wir es doch mit Tocotronic – IM ZWEIFEL FÜR DEN ZWEIFEL. Ich schreie und flüstere das zwischendurch in den Text. Ein weiteres deprimierendes Jahr für kulturelle Begegnungen und Veranstaltungen. Dafür ein gehaltvoller Output der KünstlerInnen, die viel zu wenig ihrer Kunst live darbieten konnten. Die Listen sind lang geraten.

Hier meine favourite Faves, die ich gern teilen will:

 

Alben

SUNROOF - ELECTRONIC MUSIC IMPROVISATIONS VOL. 1 | the parallel series/Mute

Mute-Chef Daniel Miller hat sich mit seinem alten Freund, dem großartigen - of Depeche Mode-Fame - Produzenten Gareth Jones, zusammengetan und ein wundervolles Album aufgenommen, welches große Lust auf Weitere macht. 

BLACK MIDI – CAVALCADE | Rough Trade

Wahrlich eine feierliche Parade. Jedes Album, jede EP ein großes Versprechen. Mit “Schlagenheim” waren Wucht, Klasse und Bedeutung klar, die “Guns Of Brixton”. CAVALCADE ist nun ein episches Meisterwerk und sie sind immer noch so jung. Die instrumentale Klasse wird weiter ausgebaut, die Arrangements zeugen von tiefem Wissen und Geordie Greep singt in einer Art, die mal an Bowie, mal an Buckley erinnert und das ist wirklich neu und hebt diese Platte aufs Podest. Aufgrund der Komplexität kann ich nur den Repeat Modus empfehlen.  Black Midi halten ihre Versprechen.

Im Zweifel für die Bitterkeit, Und meine heißen Tränen -

ARAB STRAP - AS DAYS GET DARK Rock Action

Alte Helden, großes Werk. Moffat & Middleton nach 15 Jahren wieder kongenial vereint. Düster, hoffnungslos aber selbstironisch, hoffnungsvoll aber der Dunkelheit immer nah.

BLACK COUNTRY, NEW ROAD - FOR THE FIRST TIME | Ninja Tune

Dieses UK-7-piece ist die Blaupause der zeitgenössischen LDN Open Scene Popkultur. Wir spielen seit Jahren alle Songs von ihnen. Als dann Anfang diesen Jahres das langersehnte Album kam waren alle glücklich. Sie sind schon wieder viel weiter und zu Beginn des neuen Jahres erwartet uns dann der nächste Punch, der vor Hochkomplexität strotzen und uns reichlich Diskussionsstoff liefern wird. Helden von Heute Award!

Im Zweifel für Verzärtelung, Und für meinen Knacks - 

DRY CLEANING - NEW LONG LEG | 4AD

Florence Shaw scheint DIE Protagonistin einer neuen Postpunk Avantgarde, die eine dem Nihilismus zugewandte Verzweiflung thematisiert oder uns allen vielleicht einfach nur FUCK YOU ANYWAY ins Gesicht sagt. Allgegenwärtige Depressionen strahlen nicht nur im EMO-Bereich auf die Lyrics aus - vielleicht ist es auch zu dramatisch beschrieben - aber Lethargie und verzweifelter Umgang mit den sozialen Dissonanzen sind der tägliche Nebel der Generation Z. Das wechselt sich aber auch mit dem Humor ab und so kommen wir final zum Zitat aus dem Hit „Scratchyard Lanyard“: It'll be okay, I just need to be weird and hide for a bit.

Im Zweifel für den Zweifel, Das Zaudern und den Zorn,
Im Zweifel fürs Zerreißen, Der eigenen Uniform 

DAMON LOCKS BLACK MONUMENT ENSEMBLE - NOW! | International Anthem

Eine der Entdeckungen des Jahres. Diese Schallplatte wurde im Freien aufgenommen. Im Garten von International Anthem. Live sind sie eine absolute Wucht, gleichzeitig klug durcharrangiert, politisch klar und mit Leichtigkeit improvisierend. What a team! Und welch Botschaft: Wenn die alte Welt fällt, verlieren wir viel, aber wir gewinnen die Möglichkeit, eine Neue zu erschaffen. Das Neue ist möglich. Wir tun, was wir können.

BEACHY HEAD - BEACHY HEAD | Graveface Records

„Equal parts shoegaze, lo-fi, experimental & pop.“ Steht auf dem Cover. Das ist richtig. Das lässt mich schwelgen, lachen, träumen, weinen. Beachy Head sind genau richtig. Bella vista Award!

KINGS OF CONVENIENCE - PEACE OR LOVE | EMI

Süßer klang Norwegian Bossa Nova nie. Jetzt schon ein Evergreen.

SQUID - BRIGHT GREEN FIELD | WARP RECORDS

Squid sind jetzt schon seit Jahren am Start und beeindrucken durch spektakuläre Singles und EPs, wie „The Dial“ aus 2018 oder „Town Centre“ auf Speedy Wunderground aus 2019. Dan Carey hat das erste Album dann folgerichtig produziert. Alles was wir lieben ist vereint – Post Punk – Jazz – Kraut – Drone – Dekonstruktion – Wucht. Und auch hier viel Zusammenarbeit. Frau Thackray ist dabei und mein Lieblings BC, NR-member, Saxophonist Lewis Evans, auch.

LITTLE SIMZ - SOMETIMES I MIGHT BE INTROVERT | Age 101 Music 

Sie ist auf dem Weg. Produziert von SAULTs Inflo. Klug und mit den besten Kollaborationen wie Cleo Sol – ebenfalls von SAULT. Opulenz, fast Dekadenz, wird ausgelebt und trägt uns in höchste Höhen.

IRREVERSIBLE ENTANGLEMENTS - OPEN THE GATES | Don Giovanni Records/International Anthem

Eine Meditation, eine Verheißung, sie sagen „a collectivist ultra-sonic healing conveyance“ Da denkt man sich so – hui – und zitiert gleich nochmals: „We are so close tot he good news“.

Im Zweifel für den Zweifel, Und die Unfassbarkeit,
Für die innere Zerknirschung, Wenn man die Zähne zeigt -

SAULT - NINE | Forever Living Originals

Es ist so bemerkenswert, wie pointiert sie auch mit dem fünften Album in gut zwei Jahren den Zeitgeist und die Seele treffen. Der Gegenwartssoundtrack. Und auch die Veröffentlichungsstrategie ist sensationell. Erst kann man sich das Album ein paar Monate auf den Streamingdiensten warmhören und mit Veröffentlichung des limitierten und – aufgepasst – „never to be re-issued again! Vinyls wird jede Online-Verfügbarkeit vom Markt genommen. I like!

MAKAYA MCCRAVEN - DECIPHERING THE MESSAGE | Blue Note Records

Das dechiffrieren alter Sounds gelingt hier wie nirgends sonst. Man fragt sich, ob es ein Remix ist, bevor es einen mit frischer Superpower ins Herz trifft. Die pulsierende Vielfalt , die  bei vorherigen Alben den Hang zu massiv wechselnder Zusammenarbeit mit Kamasi, Nubya, Shabaka to name a few entstand, steht eben auch hier Pate.

Im Zweifel für Zerwürfnisse, Und für die Zwischenstufen -

GEWALT – PARADIES | Clouds Hill

Wie heißt die Band? GEWALT!!!!! Nach einer beachtenswerten Veröffentlichungspolitik, die besagte, jeden Song sofort auf Vinyl zu pressen, weil er einfach raus muss, nun doch ein Album. Das macht auch im Kontext mit dem Buch Paradies und den begleitenden Lesungen von Patrick Wagner Sinn. Ein Werk, eine Lebensbeschreibung, eine höchst private Offenlegung der Dinge, die berührt. Wahrscheinlich die lauteste Kunst in dieser Liste, vermutlich aber auch die mit der höchsten Sensitivität.

EMMA-JEAN THACKRAY - YELLOW | Movement

Total fusion/confusion. Spiritualität und tricky Dancefloor, sie spielt mal bei Squid mit und man neigt dazu, zu bitten, zeig uns ein paar Jazztricks. „Yellow“ ist eine ganz tolle, hingebungsvolle und selbstbewusste Darstellung einer Vielkönnerin.

SONS OF KEMET - BLACK TO THE FUTURE | Impulse!

Last but not least. Das 2018er Album hängt noch nach, weil es einfach so beeindruckend war. Shabaka ist am Start, zusammen mit Seb Rochford. Beide waren schon bei Polar Bear am Start, deren 5 oder 6 Scheiben bei mir in den Nuller- und Zehner-Jahren zu einer intensiven neuen Auseinandersetzung mit den Spielformen des Jazz geführt haben. Ein echter Trigger. Die neue Sons of Kemet hat wieder neue Gäste, unter anderem die furiose Klarinettistin Angel Bat Dawid, die wir live mit Damon Locks Monument Ensemble erleben durften. Alles gehört zusammen, in 80 Alben um die Welt. Das neuerliche portraitieren dieser Szenen wird nochmals ein Projekt im nächsten Jahr. Eine erste Summary habe ich 2020 im Rahmen dieser Sendung erstellt.

MUSIKABEND 41 Meeresungeheuer und das Moers Jazz Festival 2020-06-27 by MUSIKABEND on 674.fm  Mixcloud

Im Zweifel fürs Zusammenklappen, Vor gesamtem Saal
Mein Leben wird Zerrüttung, Meine Existenz Skandal -

JA, PANIK - DIE GRUPPE | Bureau B

Eine Gruppe in der regelmäßigen Selbstreflektion und Neuerfindung. Ja, Panik hören ist wie im Rausch durchs Museum zu ziehen.

FLOATING POINTS | PHAROAH SANDERS | THE LONDON SYMPHONY ORCHESTRA – PROMISES | Luaka Bop

Wenn Elektronik und das perfekte Saxophon zur unwiderstehlichen Symphonie verschmelzen…hach!

DAMON ALBARN - THE NEARER THE MOUNTAIN, MORE PURE THE STREAM FLOWS 
Transgressive

Die Vertonung seiner zweiten Heimat Island. We like it more pure, Damon.

STEPHEN FRETWELL - GUY BUSY | Play it again Sam

Zwiespalt, Leiden, Drama. Sein erstes Album nach 13 Jahren. Auch produziert von Dan Carey.

JARVIS COCKER - CHANSONS D’ENNUI TIP-TOP | ABKCO Music

Jarvis nutzt die Gelegenheit mit seinem Album Staffage im Wes Anderson Film „The French Dispatch“ zu sein und dazu all seine französischen Helden zu covern und sich dem Chanson hinzugeben. Ein von vorn bis hinten sehr gelungenes Vorhaben. Lediglich sein Cover „Aline“ (im Original vo Christophe erscheint auf dem „echten Soundtrack“, der von Alexandre Desplat geliefert wird. Chapeau!

PARQUET COURTS - SYMPATHY FOR LIFE | Rough Trade

Endlich wieder da. Wieder mit Dance Ambitions und strictly New York. “Walking on a downtown pace“ ist so famos.
SONGS

SEDIBUS - UNKNOWABLE | Orbscure Recordings

Wenn jemand weiß, wie man einen manischen Killertrack schreibt, dann Alex Paterson von THE ORB. Er hat sich mit seinem ehemaligen Mitstreiter Andy Falconer zusammengetan und diese erste Sedibus EP eingespielt. Deep drone ambient, intergalactic, ein Genuß.

MOGWAI - RITCHIE SACRAMENTO | Rock Action Records 

Ein Hoch auf Stuart Braithwaite und mogwai, unsere unermüdlichen schottischen Wegbegleiter. 
Your own ghost running away with the past
Disappear in the sun
All gone, all gone

DAVE GAHAN & SOULSAVERS - METAL HEART | Columbia Records

Wenn Chef-Crooner und Modern Pelvis Dave Gahan die wundervolle Chan Marshall aka Cat Power covert brechen alle Dämme. Tell me what you feel!

ARAB STRAP - HERE COMES COMUS | Rock Action Records

Die wundervoll düstere Lyrik hinterlässt Dich chancenlos.

TINDERSTICKS - YOU’LL HAVE TO SCREAM LOUDER | City Slang

Ich muss einfach diese Beschreibung von Stuart Staples dazu packen, denn nur das erklärt, warum er mit dieser Wucht daherkommt und schier explodiert. Für seine Verhältnisse natürlich. 

"Late may, early June, 2020 was a twitchy and angry time for many of us. There was a growing agitation inside of me.
I woke on a Saturday morning with no plans but just this fucking Television Personalities song going round in my head, it pushed me into the studio. 4 or 5 hours later I had made the basis of this recording, though I had to wait for windows of opportunity within our confinement to work with the band to bring it to a conclusion.

I have loved the TVPs since buying the Bill Grundy e.p., with its photocopied sleeve on one of my regular after school bus trips to the Virgin record shop in a basement on King Street, Nottingham.
Some years later, 1984, I was living around the corner on the 17th floor of Victoria Centre flats, they swayed in the wind. I was working a few days at a local record shop and The Painted Word was released. It became at the soundtrack to that semi-slum, those times. I was 19.

To be young in the early 1980’s there was much to be angry about, battles to be fought - Thatcher, racial and gender injustice - and (one of the motivations for this song) nuclear disarmament. Although we may not have thought those battles were ever won, we believed we had helped push things in a different direction, that changes were made.

In the spring of 2020 we were shown painfully that these battles are ongoing."

-Stuart A. Stapes, November 2020 

FRANCOIZ BREUT - MES PECHES S’ACCULUMENT | Trente Fevrier/Play it again Sam

Akzentuiert und direkt, ein Chanson gezeichnet wie eine graphic novel. 

-    Im Zweifel für die Zwitterwesen - Aus weit entfernten Sphären -

DESIRE MAREA - TAVERN KWEEN | Mute

Ein mächtiges Statement in Sachen arty queer dancefloor.

BEACHY HEAD - DISTRACTIONS | Graveface Records

Pure Schönheit zum Niederknien. 

Weitere Rotationsheldensongs:
FLOHIO – ROUNDTOWN | download
FAMOUS - FOREVER | Ninja Tune
LITLLE SIMZ FEAT. CLEO SOL - WOMAN | Age 101 Music 
ARLO PARKS - HURT | Transgressive
CELESTE - SOME GOODBYES COME WITH HELLOS |Both Sides Records/Polydor
JA, PANIK - GIFT | Bureau B
YARD ACT - DARK DAYS | ZEN FC
WET LEG - CHAISE LOUNGE
LILY KONIGSBERG - OWE ME | Wharf Cat 
PARQUET COURTS - WALKING AT A DOWNTOWN PACE | Rough Trade

 

KONZERTE

Der leider kurze Streifzug durch die Live-Welt zeigt einfach auf, wie schwierig das in diesem Jahr alles war. Und dennoch gab es wundervolle und einzigartige Highlights, die man in anderen Jahren vielleicht in der Form nicht hatte. Hier sind sie alle, bitte sehr.

Das erste Live-Erlebnis in 2021 war am Pfingstwochenende das Moers Jazz Festival, welches wir mit unserer Radiosendung Musikabend auf 674FM begleiten durften. Wir haben uns aufgeteilt und für El Hombro und mich gab es an dem Tag dann nicht viele, dafür aber besonders schöne Konzerte. Zunächst gab’s das erste Event draußen mit dem legendären JOHN SCOFIELD - auf einer strikt abgetrennten Rasenparzelle sitzend – lauschten wir versonnen seinem Soloauftritt und durften seiner außerordentliche Gitarrenperformance beiwohnen. Dann in der Halle: high end piano avantgarde jazz des schweizer-amerikansichen SYLVIE COURVOISIER TRIO feat. Drew Gress and Joey Baron. Wenn mehr Menschen dort hätten sein können, wäre es bei C'EST LE TEMPS - C'EST LE TANGO aus der Demokratischen Republik Kongo so sehr abgegangen, denn das perkussiv treibende Trio verbreitet größte Freude und beherrscht es, die Zuschauer manisch auf deren Instrumente zu ziehen. Nach einem wunderbaren Interview mit dem Künstler und Multitalent FELIX KUBIN folgte final der intensive Auftritt seines aktuellen Projektes, das er mit dem polnischen Drummer Hubert Zemler betreibt: CEL. Zemler sieht sich zurecht in bester Tradition von menschlichen Schlagzeugmaschinen wir Klaus Dinger und das Konzert ist entsprechend minimalistisch krautig elektronisch und weniger tanzbar als ich dachte.

Dann folgte im Juni die Möglichkeit, FRANCOIZ BREUT live im Stadtgarten zu sehen, ein Open Air Konzert mit einer kleinen Bühne und circa 100 Zuschauern - organisiert von den wunderbaren Kölner Labelmachern von Le Pop. Ein Abend mit einer großartig aufgelegten La Breut, die charmant und in Bestform auftritt, so scheu wie weise.

Ein paar Tage später dann die furiose Umsetzung der Idee von Jan Lankisch, auf dem Köln- Düsseldorfer Schiff ein Konzert mit SPIRIT FEST zu organisieren, dieser wunderbaren Band, die aus Notwist- und Tennis Coats-Mitgliedern besteht. Entlang der Skyline unserer wundervollen Stadt ein so besonderes Konzert zu sehen, war einfach großartig. Ein herrlicher Abend.

Im September dann LEWSBERG, das erste Konzert im Club, Buhmann und Sohn. Eigentlich sollte es Open Air sein, aber die hatten zwischendurch Probleme mit der Konzession, draußen Getränke auszuschenken, offensichtlich war etwas vorgefallen. Lewsberg, Rotterdams finest, haben uns dann weggetragen, wir haben uns noch mit der Band unterhalten und diesen wunderbaren Abend die ganze Woche lang gespürt.

Und dann kommt auf einmal Tilman Rossmy mit DIE REGIERUNG auf Tour. Er hat uns vor dem Konzert ein langes Interview mit tiefen Einblicken gegeben und die Band hat einen wirklich spektakulären Auftritt im Kölner Subway abgeliefert. Sie präsentierten das sehr gute Album „Da“ und das Publikum durfte zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwelgen. Kompliment, eine zeitlose Band.

Nachdem wir am Abend zuvor noch Anton Corbijn getroffen haben war dann das zehnte Weekend Festival das musikalische Highlight im Oktober.

In der Stadthalle Köln-Mülheim gaben sich – wie in jedem Jahr exzellent kuratiert – wichtige junge und alte Künstler die Ehre. Das JULIUS EASTMAN PROJECT bereitete mit minmal music und Tanz-Choreo den Auftakt. Eine Verneigung vor dem Werk Eastmans, der einst mit Boulez und Arthur Russell arbeitete, dann viel zu früh als obdachloser Junkie verstarb. Ein krasser Gegensatz zu dem brasilianischen Superstar GILBERTO GIL, der dort sogar fünf Jahre dort als Kulturminister agierte. Und der mit allen Facetten brasilianischer Bossa, Pop und mit Ausflügen in den Reggae den Abend verzaubert und das Publikum (überwiegend des Portugiesischen mächtig) mitnimmt. MUY OGRIGADO! Den Abend beschließt die junge Londoner Rapperin FLOHIO. Sie ist schnell, bisschen Trap drin, sehr direkt und auch etwas aggressiv. Energetisch mit einer gehörigen Portion Darkness, zieht auf jeden Fall. Wir werden Wiederholungstäter.

Der zweite Abend gerät gewollt wie ungewollt minimal. Gewollt mit der herausragenden Elektronikpionierin SUZANNE CIANI, die wir eigentlich schon im Mai gemeinsam mit Manuel Göttsching ind er Philharmonie sehen wollten, aber aus bekannten Gründen eines der abgesagten Konzerte war. Nun wenigstens sie. Wer der elektronischen, experimentellen Musik zugewandt ist hatte seine Freude. Ein Abend, an dem es ihr gelang, die Loops und Aufbauten ihrer Tracks so zu steigern, dass das Publikum verzückt abging. Danach gab es leider aufgrund der Absagen der tollen Emma Jean Thackray und des alten Helden Mulatu Astatke nur noch DJ Sets.

Im Oktober dann auch unsere erste Radio-Live-Übertragung aus einem Club. GEWALT spielten im ArTheater und vorher haben wir verabredet, dass wir dieses Konzert live übertragen dürfen. Ein ziemlich besonderer Moment, der uns mit unserem neuen Equipment ermöglicht wurde. Bei 674FM sind wir nun in der Lage eben solche besonderen Momente im Rahmen unserer Sendung erlebbar zu machen. An diesem Abend gab es nicht nur ein Konzert sondern auch die Lesung von Patrick Wagner aus seinem Buch Paradies, welches mit der Platte in einer Box veröffentlicht wurde. Die Lesung ist wirklich bemerkenswert intim und zur Situation passend auf den Punkt. Die Menschen waren ergriffen und entladen hat sich dann anschließend in einem - wie wir es kennen - spektakulären Gewalt Konzert.

Das spektakulärste Event im Jahr 2021 war sicherlich für Brother EL Hombro und mich das LE GUESS WHO Festival in Utrecht. Eine große Entdeckung, auch wenn es wegen des plötzlichen Lockdowns in den Niederlanden etwas minimiert wurde.

Das Tivoli Vredenburg ist eine architektonisch umwerfende Konzertlocation, deshalb finden auch die verschiedenen Räume Erwähnung. Ganz oben in der Pandora empfängt uns die melancholisch-düstere avangardistisch-minimale Elektronikfricklerin LUCRECIA DALT. Wir müssen aber zu bereist erwähnten SPIRIT FEST weiterziehen und landen dort auf der Cloud Nine. Kristallklares und wundervolles Konzert. Die Sängerin und Produzentin PINK OCULUS präsentiert in der Ronda ihr 2022 erscheinendes Werk „Before wisdom“. Es geht um eine toxische Beziehung und - so sagt sie - „post-traumatic spiritual growth“. Sie ist bei sich selbst – eine Erscheinung. Wir verfolgen, wie das weitergeht. Anschließend FLOHIO again, das uns bekannte Feuerwerk, wir sind Fan Boys. Besonders gefreut haben wir uns auf VANISHING TWIN, eine Band, deren Stil man schwer beschreiben kann, weil er mit den Songs wechselt. Die lakonsiche Sängerin Cathy Lucas vermittelt gleichermaßen aufgeweckt wie vermeintlich gleichgültig einen mantra-artigen Zustand im Film Noir Stil. Man kann langsam tanzen oder es lassen. Mitunter Musik im Cinemascope Format. Valentina MAgaletti von VAniching Twin sagt zu Coltranes „A love supreme“: It became my church,my spiritual healer and my safety net“. Vielleicht hilft das bei der Einordnung? Der ZWANGERE GUY hat uns nicht angemacht und wir landen zunächst in der Janskerk und sehen Folklore von TARTA RELENA, ein katalanisches Folk Duo, das auch von John Talabot ge-remixed wird. Da das schnell beendet war, finden wir auch die richtige Kirche, die Jacobikerk. Dort gibt sich MATANA ROBERTS aus Chicago, die Teile des Festivals kuratiert hat, mit JESSICA MOSS die eklektische Ehre. Die Ausnahme-Saxophonistin und Klarinettistin macht den Deckel drauf. Wir beenden den Abend mit spannenden Improvisationen.

Der zweite Tag ist gekürzt, es geht mittags los, schnelle Biere und große Lust. Wieder ganz oben in der Pandora werden wir in Dunkelheit versetzt. ICE BALLOONS aus Brooklyn sind da. Kyp Malone von den sehr geschätzten TV on the Radio ist dabei. Die Band wird von einer Fliege angeführt, Sean Kennerly von Samiam trägt immerzu einen Fliegenhelm. Ein großartiges Noise-getriebenes Konzept. Es folgt ein fulminantes Highlight aus Chicago: DAMON LOCKS BLACK MONUMENT ENSEMBLE. Sie treten im Grote Zaal auf, eine Philharmonie mit tollem Sound. Die Reden des „Civil Rights Movements“ werden in die Songs gemischt und die Sängerinnen und MusikerInnen holen alles aus sich raus, herausragend Angel Bat Dawid an der Klarinette. Wir stürzen hinaus, fahren durch die ganze Stadt in den kleinen Club De Helling und sehen BRIGID DAWSON & SUNWATCHERS. Und auch wenn es zwischendurch von abgehobener Eklektik ind leichten Country entschwindet, hat man immer das Gefühl eines hippen Silberstreifs am Himmel des Clubs. Brigid Dawson hat uns im Gespräch nach dem Konzert noch Versprechen gemacht.

Wir sind glücklich, sahen im Hotel ständig Damon Locks und sein Ensemble, und waren ganz sicher nicht das letzte Mal hier - wirklich tief beeindruckend.

Gut war, dass SQUID noch rübergekommen sind aus Brighton und dann „Bright green field“ im Gebäude 9 präsentiert haben. Und das war auch wichtig, weil sie gerade live zeigen (wie auch BC, NR), dass diese jungen Bands alle schon wieder so viel weiter sind, als das Material, das sie veröffentlicht haben. Alle Wege sind offen und sie experimentieren und beglücken und begeistern.

Zu ARLO PARKS ist soviel geschrieben worden. Bei allem Hype: er ist gerechtfertigt und ich bin dankbar für die Gelegenheit, sie in einem kleinen Club gesehen zu haben, ebenfalls im Gebäude 9.

NUBYA GARCIA habe ich in den vergangenen Jahren häufiger im Radio gespielt. Sie hält mit Makaya McCraven auch diese London-Chicago Verbindung. Live hat sie im Club Bahnhof Ehrenfeld ihre Extraklasse gezeigt. Es war ein zu kurzes intensives Konzert. Ich empfehle auch das Remix-Album von „Source“.

MULATU ASTATKE, der Godfather of Ethio-Jazz kommt dann als Nachschlag zum Weekend-Festival doch noch und gibt die finale Live-Show in der Stadthalle. Er spielt mit seiner furiosen Band zum Teil sehr getragene Versionen seiner Evergreens. Pure Schönheit, timeless, so heißt auch die Live-Scheibe, die in diesem Jahr zum RSD rauskam. 

Und final will ich nicht vergessen, das schöne Interview mit CHRIS FRANTZ von den Talking Heads zu erwähnen, welches ich gemeinsam mit Blood Brother Alan Lomax im Rahmen unserer langen New York Radio Nacht führen durfte. Wir waren vorbereitet und sind es weiterhin.

Bis gleich,
John Ross Ewing

 

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