Das Kino wird zur virtuellen Realität - Wie das Internet und die Technik die Unterhaltung verändert
Das alte Jahr ist zu Ende, das neue hat soeben begonnen. Es ist Zeit über eines der wichtigsten Themen in diesem Blog zu schreiben: Filme und Kino.
Bereits sehr lange beschäftigt mich die aktuelle Auseinandersetzung mit dieser Sparte der populären Kultur, doch so recht wollte der Einstieg nicht gelingen. Welche Überschrift? Welcher Zugang? Kritik oder Feststellung? Nach vielen Monaten der Gedanken haben sich einige im Laufe der Zeit herauskristallisiert.
Das Kino mit dem ich aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr. Das mag sich wehmütig anhören, ist aber der Anerkennung einer Realität geschuldet, die ich lange Zeit verleugnet habe. Es gibt "dieses Kino" nicht mehr, weil es aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, Opfer der Mechanismen nicht nur der populären Kultur, sondern auch der Zeit.
Populäre Kultur ist eine Kultur des Momentes, eines Augenblicks, die Zeit lässt alles in ihrem Schlund verschwinden, gleichsam der Anziehungskraft eines schwarzen Lochs.
Als ich mich letztens mit dem Thema Serien beschäftigte, las ich ein interessantes Interview zu dem Thema in der Zeitschrift Psychologie Heute mit dem Titel "Seriengucken ist wie Probehandeln". Dort schrieb die Autorin des Buches "Von Game of Thrones bis The Walking Dead. Interpretation von Kultur in Serie" (Springer, Berlin 2017), Svenja Taubner u.a., dass das, worüber sich die Menschen unterhalten, im Laufe der Jahrzehnte mit den Gewohnheiten und Angeboten ändert: Im vergangenen Jahrhundert sprach man über Bücher, dann über Filme, jetzt über Serien. Darüber musst ich lange nachdenken und reflektierte das Gesagte auf die eigene Historie und zeitliche Wahrnehmung.
Es stimmt.
Das ist auch ein Grund, warum das Kino, welches ich kennen- und lieben gelernt habe, tot ist: Es gibt keine Resonanz mehr in der Breite. Die populären Themen, die die Menschen im Alter von 12 bis 49 interessieren, sind Themen der Gegenwart, des gegenwärtigen Erlebens und da stehen Serien, Computerspiele und Shopping im Vordergrund. Das ist eine Tatsache, die man respektieren sollte.
Es gab, wenn man ehrlich ist, auch immer nur eine Handvoll Menschen, die sich für das Kino über die blosse Unterhaltung hinaus interessierten und interessiert haben, denke ich an meine Schulzeit, die weitere Ausbildung und das Berufsleben zurück.
Die wenigsten interessierten sich für die Kunst des Schauspiels, Schauspieler, Kamera, Schnitt, Drehbuch, geschweige denn Filmmusik. Kino bedeutete Lückenfüller zwischen Alltagsroutine und dem eigentlich wichtigen Zeitvertreib, nicht mehr.
Würde ich heute durch die Fußgängerzone einer Großstadt gehen und 100 Menschen beispielsweise danach fragen, ob sie mit den Namen David Lean, Sergio Leone, Martin Scorsese oder Gregory Peck, William Holden, Robert De Niro etwas anzufangen wüssten, ich vermute (in einem repräsentativen Altersdurchschnitt) würden dies vielleicht 1-2 % der Befragten tun. Allerdings ist das eine Vermutung, die dann durch ein Experiment bestätigt werden müsste (oder auch nicht), zudem natürlich auch abhängig von Land, Kontinent und Kultur. Daher will ich das nicht verallgemeinern.
Stellen Sie sich vor, Gold wäre kein seltenes Edelmetall, sondern überall auf der Welt verfügbar, wie Kieselsteine. Sie würden, weil es schimmert und schwer ist und sich schön bearbeiten lässt möglicherweise sammeln, zuhause aufstellen, wenn es sie aber stört und sie den Wert nicht mehr erkennen, es einfach wegschmeißen, denn es ist überall und zu jeder Zeit stets aufs neue erhältlich.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, in dem es kein Internet gab, war man als leidenschaftlicher Filmfan abhängig von zwei Medien: Dem Fernsehen und dem Kino sowie den Printmedien, Büchern. Ein Film wurde im Fernsehen einmal ausgestrahlt und auch wenn man überwältigt war, so musste man doch bis zu mehreren Jahren warten, bis man ihn wieder sehen durfte. In dieser Zeit wuchs die Sehnsucht, das Verlangen nach dem Film und die Dauer des Wartens überbrückte man mit Gesprächen, Lesen und Diskussion mit Gleichgesinnten.
Gleiches galt für das Kino. Es war ein besonderer Ort, bevor die Schachtelkinos mit Nachos und Popkorn auftauchten, an dem man sich traf, grossartige Filme sah, hinterher darüber diskutierte und die nicht 3 Monate nach ihrer Erscheinung in allen physischen und virtuellen Varianten erhältlich waren.
Filme waren etwas besonderes, etwas seltenes.
Worauf ich hinaus will: Inflation entwertet. Wird etwas überall, zu jeder Zeit und für wenig Gegenwert verfügbar, verliert es an Wert und Bedeutung.
Heute ist das anders und viele Gespräche mit Menschen, die sich Filme und Serien ansehen, haben mich nicht nur bestürzt, sondern auch erkennen lassen, dass Filme und Serien an Bedeutung verloren haben. Viele dieser Menschen schauen sich eine Folge nach der anderen über Stunden an, nutzen die Möglichkeit den Vorspann zu überspringen (!) und gleich zur Handlung überzugehen. Gefällt die erste Folge einer Staffel nicht, so wird diese ausgemacht und nachgesehen, was der Algorithmus noch so empfiehlt. Es ist alles beliebig austauschbar und verfügbar. Denken Sie an den Kieselstein.
Was Serien betrifft, so "stört" mich das nicht, weil ich diese Form des Erzählers für maßlos überbewertet halte und es auch Serien schon vor Urzeiten gab. Zu dieser Urzeit liefen die Folgen einmal wöchentlich und man fieberte der nächsten entgegen. Auch zu dieser Zeit unterhielt man sich über Serien. Das ist kein neues Phänomen (Dallas, Magnum, etc.).
Allerdings schwappt diese Form der Beliebigkeit auch auf Filme über, das verwässert ihre kulturelle Bedeutung enorm. Überall kann man Filme schauen: Im Auto, im Zug, auf Bahnhöfen, in der Kneipe, wo auch immer. Gefällt er nicht, dann wird er eben gelöscht und ein anderer geschaut. Es ist ja immer alles überall, zu jeder Zeit verfügbar! Denken Sie an den Gold - Kieselstein - Vergleich.
Es ist nur eine Vermutung, aber man weiss einen (Kino)Film längst nicht mehr so zu schätzen, wie einst. Das ist keine Kritik am System, sondern der (notwendige) Lauf der Dinge.
Wir leben im Zeitalter des Kino-Trash. Wir leben im Trash-Zeitalter bezogen auf Kino und Kultur. Die Geschichten basierend auf der Bibel und Homers Ilias sind zu Ende erzählt. Es wird nichts neues mehr kommen nur die ewige Variation von bekanntem, aber, und das ist das entscheidende, bald in neuer Form (siehe unten).
Natürlich werden auch heute noch gute Filme gedreht, aber ihre Zahl nimmt über die Jahrzehnte (gefühlt, nicht belegt!) stetig ab. Wer dem keinen Glauben schenken will, möge sich am Ende eines jeden Jahres ansehen, was im Kino lief und v.a., was erscheinen wird. Jüngst las ich in einer bekannten deutschen Kinozeitschrift über die bevorstehenden Filme des Jahres 2018 im Mainstream. Ich möchte nicht unnötig übertreiben, aber es war ein Grauen: Prequels, Sequels, Reboots, Remakes und Franchise, wohin das Auge nur blickt. Ich gebe es zu, einige dieser Filme schaue ich mir zu bloßen Unterhaltung auch an, ertappe mich aber immer wieder dabei, wie ich am Ende zu dem Resultat gelange, dass ich soeben erstklassigen Trash gesehen habe.
Und bevor die Intellektuellen und Feuilletonisten laut aufschreien: Die Filme, die ihr euch anseht kennt keiner, will keiner kennen und über die reden vielleicht 5-8 Menschen. Die interessieren mich nicht. Nicht stundenlanges Schöngerede und Interpretation sind das Ziel, sondern lustvolle Rezeption.
Zwei grosse Comic-Verlage oder Konzerne beherrschen zur Zeit das Kino. Wird sind bereits mittendrin in diesen Universen und sie werden unaufhörlich rotieren, bis sie kein Licht mehr ausstrahlen. Das kann man verfluchen, oder aber, wie ich es getan habe: Akzeptieren.
Es ist der popkulturelle Lauf der Zeit.
Ob jemand die Methode nach Stanislawski anwendet, ein Verfechter des Method Action ist oder an der Julliard School war, interessiert keine Sau, auch nicht die Ausleuchtung einer Szene, die Führung der Kamera und die Komposition der Musik. Es muss einfach nur geil und schnell zu konsumieren sein, wie z.B. auch Popmusik, die lebt auch nur von Momenten oder ewig gestrigen Nostalgikern. Welche Bedeutung der Schnitt für einen Film hat, was der Regisseur und Autor aussagen wollten etc., all das hat keine Bedeutung mehr im Zeitalter der Selbstdarstellung im Internet.
Jeder ist ein Star, jeder kann ein Influencer werden, jeder kann Musik machen und Filme drehen und sie gleich ins Netz stellen. Dazu braucht man keine Ausbildung und Reputation mehr, sondern nur eine bestimmte Anzahl an Klicks.
Ich finde das großartig.
Es ist der technische Lauf der Zeit.
Willkommen im neuen Zeitalter. Ich hatte letztens die Möglichkeit eine virtuelle Brille aufzusetzen und die Welt um mich herum digital und virtuell zu betrachten. Es war atemberaubend! Doch es wird noch besser. Spielen Sie mal ein Computerspiel mit einer virtuellen Brille - Sie werden den Atem anhalten!
Die Zeit, in der wir auf einer weißen Leinwand Geschichten in bewegten Bildern erzählt bekamen, ist vorbei. Wir selbst interagieren mit der Geschichte, werden Teil der Geschichte und v.a. wir haben die Kontrolle über die Geschichte. So, wie wir uns verhalten, so entwickelt sich die Geschichte weiter. Wir entscheiden, ob sie gut oder schlecht ausgeht, wir entscheiden, ob wir gut oder böse sind und unser Schauspiel wird einst entscheiden, ob unser virtuelles Gegenüber uns ernst nimmt oder gleich über den Haufen ballert.
Das wird die Zukunft. Michael Crichton sah das mit WESTWORLD als Visionär schon voraus, genauso so wie Kathryn Bigelow mit STRANGE DAYS und James Cameron mit AVATAR.
Es ist Zeit das "gute alte Kino" zu begraben und die Sinne für die neue visuelle Kultur zu öffnen. Vor kurzem tat ich etwas, was für mich vor Jahren noch undenkbar gewesen wäre: Ich schmiss Biografien über David Lean und Montgomery Clift in die Papiertonne.
Natürlich werde ich mir weiter Filme ansehen, die mich interessieren, hier und da auch Serien. Ich werde dabei aber stets die sich rasant ändernde Realität akzeptieren und nie aus dem Auge verlieren.
Enden möchte ich mit einem Monolog aus einem der für mich schönsten Filme, die je gedreht wurden, dessen Ende Hellmuth Karasek, den ich sehr schätze, als kitschig empfand, ich hingegen als einen der absolut grossartigsten und poetischsten Höhepunkte des Kinos empfinde, Rutger Hauers letzte Zeilen aus Ridley Scotts Kunst- und Meisterwerk BLADE RUNNER:
"I've seen things you people wouldn't believe.
Attack ships on fire off the shoulder of Orion.
I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhäuser Gate.
All those moments will be lost in time, like tears in rain.
Time to die."
Das Kino, so wie wir es kennen, ist tot.
Rick Deckard
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