42. Haldern Pop Festival 2025 – Ausblick

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  9. Mai 2025, 13:18  -  #Haldern Pop

Andrea Fontanari - A Swing For The Sky -Courtesy the artist and Boccanera Gallery Trento/Milano

Andrea Fontanari - A Swing For The Sky -Courtesy the artist and Boccanera Gallery Trento/Milano

Haldern Pop Festival 07.-09. August 2025

Camping/Anreise: In diesem Jahr bereits am Mittwoch 06. August 2025

Haldern Pop Tickets Tix

von Alan Lomax

In der Küche brennt noch Licht. Ein Satz wie ein letzter Blick über die Schulter, bevor die Tür ins Schloss fällt oder offenbleibt. Je nachdem, wie die Nacht war. Wie die Gespräche klangen. Wie der Wein geschmeckt hat.

Es ist ein Satz, der bleibt. Wie Reinhard Meys Zeilen aus Gute Nacht, Freunde, dieser ewigen Hymne der Zugehörigkeit, der stillen Komplizenschaft, der Abschiede ohne Pathos. Da steht jemand in der Tür, Glas in der Hand, Zigarette zwischen den Fingern. Jemand, der nicht aufräumt, sondern erinnert. Der nicht stört, sondern dazugehört.

In der Küche brennt noch Licht ist kein Alarm. Kein Appell. Es ist eine Feststellung. Und ein Gefühl. Dass jemand da ist. Dass man gehört wurde. Dass noch etwas offen ist – ein Satz, ein Lachen, ein zweiter Gedanke. Vielleicht auch ein Song.

Das Motto des Festivals ist deshalb mehr als ein hübsches Bild. Es ist ein popkulturelles Versprechen: dass hier noch etwas brennt, glimmt, pulsiert. Auch wenn draußen längst alle Lichter aus sind. Und wer das Gefühl kennt, nachts im Schein der letzten Glühbirne am Küchentisch zu sitzen, weiß: Popkultur ist genau das. Ein Ort, an dem niemand fragt, wann du kommst oder gehst. Sondern ob du bleibst.

Es ist die Leidenschaft, die treibt, die Passion in deinem Blick, Ich war ein guter Junge, heute mache ich mich schick, Ich war ein guter Junge, und heute mache ich mich schick. (Tomte)

Das Line-up. Schon wieder. Auch dieses Jahr. Still und fordernd. Einmal mehr als interessant – wie so oft beim Haldern Pop Festival. Kein hysterisches Booking, kein noch größer, noch lauter. Stattdessen: Geschmack, Haltung, künstlerischer Mut.

Und ja, das fordert. Nicht uns – wir atmen Musik, wir suchen sie täglich, leben von ihr. Es fordert die anderen. Die, die sagen: Kenn ich nicht. Oder: Muss ich mal reinhören, ob mir das gefällt. – als wär's ein Snack, kein Menü.

Haldern zwingt niemanden. Aber es lädt ein. Zum Entdecken. Zum Dranbleiben. Es bietet keine Headliner-Kompromisse, sondern Fundstücke. Ich erzähle vom Festival – und sofort kommt die Frage: Wer spielt denn?

Zaho de Sagazon beim Haldern Pop Festival 2025
Foto: Zoe Joubert

Dann sag ich: Zaho de Sagazan! Und dann kommt: Kenn ich nicht. Dann sag ich: Tja, dann interessierst Du Dich vielleicht nicht für Popkultur.

Hauschka? Nie gehört. Oscar-prämiert und nominiert. Einer der renommiertesten deutschen Komponisten unserer Zeit. International gefragt. Düsseldorfer Legende. Und du kennst ihn nicht? Dann bist du nicht das Opfer der Industrie, sondern Teil des Problems.

Joan As Police Woman passt hervorragend ins Line-up des Haldern Pop – eine Grand Dame des amerikanischen Songs, die Soul, Indie und Artpop auf ebenso elegante wie experimentierfreudige Weise vereint. Ihre Zusammenarbeit mit Größen wie Damon Albarn, Rufus Wainwright, Tony Allen und als Witwe und somit emotionaler Verwalterin von Jeff Buckley zeigt ihre enorme stilistische Bandbreite und musikalische Neugier. Als frühere Violinistin der Dambuilders und als stimmgewaltige Diva mit Tiefgang bringt sie genau jene künstlerische Klasse mit, für die Haldern steht: emotional, unberechenbar, zeitlos. 

Ebenso besonders: Patrick Watson Ein Magier der Melancholie, dessen Kompositionen zwischen Cinemascope-Romantik und zerbrechlichem Artpop schweben – irgendwo zwischen Rufus Wainwright, Sufjan Stevens und Yann Tiersen. Seine Auftritte sind mehr Séance als Konzert – intim, entrückt und

Patrick Watson beim Haldern Pop Festival 2025
Patrick Watson - Foto: Lawrence Fafard

zutiefst bewegend. Als Kollaborateur von Künstlern wie The Cinematic Orchestra, Feist oder Lhasa de Sela zeigt Watson nicht nur seine kompositorische Klasse, sondern auch seine Fähigkeit, Emotionen musikalisch greifbar zu machen. Genau die Art von Klangpoesie, die sich perfekt in die Haldern-Nacht einfügt.Denn es ist nicht das Fehlen von Vielfalt, Kunst oder Independent-Geist – das Problem ist die Masse der Zuschauer:innen, die sich nur noch bedienen lassen wollen. Die nicht mehr zuhören, vorspulen, graben, vorbereiten, kochen, abwaschen wollen. Aber hier, bei Haldern? Da gibt's ein Festmahl. Auf Platten, auf Bühnen, auf Augenhöhe.

Genießt es. Oder lasst es bleiben. Aber dann sagt später nicht: Es hätte uns keiner gesagt.

Wer spielt denn da? Diese Frage klingt harmlos. Neugierig vielleicht. Aber oft meint sie: Nennt mir bitte einen großen Namen, damit ich weiß, ob sich das für mich lohnt.

Und genau da liegt das Problem. Denn wer fragt, wer spielt, fragt selten, was gespielt wird. Fragt selten nach Relevanz, nach Klang, nach Haltung. Sondern nach Markenbekanntheit. Nach Headlinertauglichkeit. Als wäre ein Festival wie Haldern eine Spotify-Top-50-Kachelparty.

Natürlich verstehe ich die Sehnsucht nach Orientierung. Im Juni fahre ich selbst zum Primavera Festival nach Porto – und wieder dieselbe Frage im Umfeld: Wer spielt da denn?

Ich antworte: HAIM! Drei Schwestern, Popmusik, Fans wie Elton John und Taylor Swift. Megaerfolgreich. Aber macht sie das wichtig? Bedeutend? Oder nur groß?

Und wie wäre es mit Lana Del Rey? Konsens-Ikone. Kunst und Pop in einem. Aber wäre sie zu groß für Haldern? Oder gar: zu klein?

Ich sage: Es geht nicht um Größe, sondern um Bedeutung. Und Bedeutung entsteht nicht durch Likes, sondern durch Präsenz. Durch diese eine Stunde auf der Bühne, in der Musik wirklich etwas verändert. In dir.

Deshalb: Infinity Song. Vier Geschwister, vier Stimmen, eine Mission: Wärme, Harmonie, Relevanz. Wer wissen will, wer beim Haldern Pop Festival spielt, bekommt mit ihnen keine schreiende Headline. Sondern ein Versprechen.

Sie erinnern an The Fifth Dimension, The Carpenters, Belle & Sebastian, Stereolab, Norah Jones, Lianne La Havas – und sind dabei doch nur sie selbst.

Ihr Album Metamorphosis Complete ist ein modernes Softrock-Meisterwerk. Haters Anthem? Lässige Selbstironie statt Protestpathos. Sinking Boat? Eine zarte Tragödie, flirrend wie die besten Soulmomente der 00er. Pink Sky? Retro und futuristisch zugleich – wie ein Haus mit offenen Fenstern, gebaut aus Harmonien. No One Comes Close? Kodachrome für die Ohren.

Infinity Song beim Haldern Pop Festival 2025
Infinity Song: Foto Artist

Infinity Song sind nicht retro. Sie sind Erinnerung und Zukunft zugleich. Sie machen Musik, die sich nicht aufdrängt, aber bleibt. Wie ein gutes Gespräch in der Küche, wenn draußen längst der Tag gegangen ist.

Das ist es doch, was wir wollen. Keine Litanei von bekannten Namen. Sondern einen Moment, der klingt wie ein Leben. Einen Act, der dich nicht anschreit, sondern bewegt. Haldern ist eines der letzten Festivals, das solche Acts noch ernsthaft wahrhaftig macht. Die Liste ist lang: Franz Ferdinand. Phoenix. Sam Smith. Mumford & Sons. The National. Jetzt: Infinity Song.

Du kennst sie (noch) nicht? Dann kümmere dich. Oder bleib draußen. Aber sag später nicht, es hätte dir niemand gesagt.

Front Line Assembly Kein Zitat. Kein Pathos. Keine Band in Haldern. Nur ein Name. Eine kanadische Electro-Industrial-Band, gegründet 1986. Dystopischer Sound, geboren aus den kalten Schatten des Kalten Krieges. Ein Name wie ein Manifest: Maschinenrhythmus trifft Überwachungsstaat, Cyberpunk trifft Unterbewusstsein.

Damals wie heute: Die Angst vor Maschinen. Die Faszination für Kontrolle. Der Krieg als Dauerzustand. Die KI als Schatten unserer Selbst. History will teach us nothing – außer, dass alles wiederkehrt.

Front Line Assembly war nie nur Musik – es war ein Spiegelbild. Oder eben: das Gegenbild. Und genau darum geht’s auch in Haldern: Zwischen Experiment und Reaktion. Zwischen Schönheit und Lärm. Zwischen der Küche, in der noch Licht brennt – und dem dunklen Bildschirm, auf dem wir uns selbst beobachten.

Und bitte sagt jetzt nicht: Was meinst du? Sondern hört einfach zu. Hört zu, wenn Maruja spielt.

Diese famose Band aus Manchester ist kein Act – sie ist ein Aufschrei. Eine Explosion aus politischem Lärm und jazziger Präzision. Das Saxofon schneidet durch die Luft wie ein Alarm. Drums und Bass? Eine körperlich spürbare Einheit – kein Rhythmus, sondern ein Stoß.

Und vergesst die Fragen – lauscht weiter: Bo Ningen. Vier Japaner aus London, die Psychedelic, Noise und Tribal-Drumming zu einem wütenden Fluss verschmelzen. Ihr Gitarrenfeedback knistert wie elektrischer Regen, während der Bass wächst und grollt wie ein herannahendes Unwetter. Die Trommeln schlagen einen improvisierten Herzschlag, der das Blut in den Adern tanzen lässt.

Bo Ningen sind keine Band – sie sind ein kollektiver Rausch. Ein wilder Tornado aus Klang, der in Halderns ruhiger Landschaft eine Kerbe sprengt. Ihre Musik ist roh, ungebändigt, eine Verlängerung des Augenblicks. Nicht, um zu analysieren, sondern um zu fühlen. Wenn ihr denkt, ihr wüsstet, was laut heißt, lasst euch von ihrem Sound belehren: Hier trifft uralte Rhythmik auf futuristischen Wahnsinn. Bo Ningen reißen Rahmen ein und bauen sie in Echtzeit neu auf. Ein Auftritt, bei dem niemand stehen bleibt – und den man nie vergisst.

Fovos Alif beim Haldern Pop Festival 2025
Fovos Alif Foto: Alan Lomax Foundation

Wir wollten keine Hymnen schreiben – wir wollten einbrennen. In der Küche ist kein Platz für Selbstdarsteller. Aber für die unbekannten, leisen und noch weniger bekannten Bands unter den unbekannteren oder berühmten. Haldern bleibt mutig und hält Versprechen. Fovos Alif ist eine der wenigen deutschen Post-Punk-Bands mit Haltung und Nähe zu Bands wie Squid, Black Country, New Road oder auch Famous aus UK – und alten Helden aus den USA. Beiden Bands werden hier die Türen geöffnet, und spät wird es Suppe geben, um noch etwas zu bleiben. In Niedersachsen wird zu dieser Zeit, Torte gereicht.

Welly, Warhaus, Heavy Lungs, Bilk, Being Dead – das sind keine Namen für große Festivalbanner. Aber sie werden bleiben. Sie sind die Schleifspuren im Line-up, die man erst später sieht – wenn der Staub sich legt. Acts, die nicht mit Promokampagnen glänzen, sondern mit Haltung, Energie und schierer Unvorhersehbarkeit. Sie kommen nicht, um Erwartungen zu erfüllen. Sie kommen, um sie zu durchbrechen.

Welly bringt Post-Punk mit Humor, Heavy Lungs die rohe Kante aus Bristol. Bilk – Working-Class-Britpop mit Wut im Bauch. Warhaus? Der belgische Gentleman mit der Zigarette der Verlorenen. Und Being Dead? Freaky, verspielt, absolut eigen – als würden The B-52s im falschen Jahrzehnt stranden.

Sie alle eint das Überraschungsmoment. Der Moment, in dem du plötzlich stehen bleibst und denkst: Was zur Hölle war das – und warum liebe ich es?

Das sind die Acts, wegen denen du auf Festivals gehst. Nicht, weil du sie kennst. Sondern weil du sie nicht kanntest.

Haldern 2025: Kein Zeitgeist, sondern Zeitgefühl. Was dieses Festival von anderen unterscheidet, ist nicht nur sein Geschmack, sondern sein Gewissen. Haldern bucht nicht für Algorithmen. Es bucht für Menschen, die zuhören.

Denn dieses Line-up ist kein bloßes Programm – es ist ein Statement gegen den Lärm der Beliebigkeit. Gegen die Verwertung von Kunst als Klickstrecke. Für Tiefe, für das leise Nachhallen. Musik wird hier nicht konsumiert, sondern geteilt. Nicht vorgeführt, sondern erlebt.

Und das ist gesellschaftlich relevant. Denn während draußen die Welt brennt – metaphorisch und real – bleibt drinnen noch ein Ort, der sich weigert, kaputtzugehen. 

Hugo Reichmann (2020) Tier

Es ist wie dieser eine Platz in der Küche. Da, wo die Suppe dampft, die Tür offen steht, jemand raucht, jemand weint, jemand lacht. Da, wo noch eine volle Flasche Wein steht und keiner fragt, ob du bleibst – weil klar ist, dass du bleibst. Haldern ist genau dieser Platz. Und die Musik? Sie ist das Gespräch, das alles wieder zusammensetzt.

Zwischen Licht und Alltag: Andrea Fontanari & Haldern Pop Es gibt diese stillen Allianzen zwischen Musik und Bildender Kunst, die sich nicht laut ankündigen – aber dafür umso tiefer wirken. Andrea Fontanari, der junge Maler aus Trient, ist so ein Künstler, der im Geiste längst zum Haldern Pop Festival gehört, auch wenn dort (noch) keine seiner Arbeiten an einer Backsteinwand hängt oder auf der Bühne projiziert wird.

Denn was Fontanari malt, fühlt sich an wie das, was Haldern kuratiert: Szenen aus dem scheinbar Banalen, aufgeladen mit Melancholie, Licht und Bedeutung. Eine verlassene Küche, ein ausgeleuchtetes Objekt, ein fragmentarischer Blick auf das Gewöhnliche – bei ihm wird das Unspektakuläre zum Monument.

Ebenso bei Haldern: die Acts, die Geschichten erzählen, die Bands, die leise kommen und laut bleiben, die Abende, die nicht durch Pyrotechnik glänzen, sondern durch das, was zwischen den Songs geschieht.

Wenn Fontanari malt, dann ist da diese besondere Lichtquelle – oft zenital, wie eine Sonne im Kopf. Wenn in Haldern gespielt wird, dann ist es oft kurz vor Sonnenuntergang oder längst nach Mitternacht. Beides: Licht gegen das Dunkel. Beides: kontemplativ, langsam, fordernd.

Seine Bilder sind wie viele der Konzerte, die sich später nicht mehr datieren lassen – nur erinnern. Man weiß noch, wie das Licht war, wie jemand sich bewegte, wie eine Stimme alles zum Stillstand brachte. Nicht mehr, nicht weniger.

Das ist der Kern dieser Verbindung: ein tiefes Vertrauen ins Detail. In die Beobachtung. In die Möglichkeit, dass das Nebensächliche das Eigentliche ist.

Haldern Pop ist vielleicht kein Museum. Aber es ist eine Galerie des Gehörs. Und Andrea Fontanari malt die Räume, in denen diese Musik gespielt werden soll.

 

 

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