Caro Josée - Turning Point
Es gibt Alben, bei denen ich ahne, dass sie mir gefallen werden, noch bevor ich sie gehört habe. Klingt ein wenig befremdlich, oder?
Wenn ich ein schönes Cover sehe, wie in dem Fall der neuen Platte von Caro Josée, dann fange ich an mir auszumalen, was mich musikalisch wohl erwarten könnte?
Eine Frau sitzt Gedanken verloren an einem Tisch, den Blick leicht abgewendet, aber fokussiert, in der rechten Hand eine Zigarette haltend. Die Bluse ist lasziv aufgeknöpft und gibt den Blick frei auf eine Kette mit dunkelblauen und goldenen Perlen. Rechts ist eine alte Häuserwand zu erkennen mit abblätternder brauner Farbe, davor eine Flasche, eine Karaffe und ein Glas Rotwein. Die Haare werden durch ein braun-rosa farbenes Tuch zusammengehalten.
Das Bild strahlt Ruhe aus. Gelassenheit. Eine nachdenklich-introspektive Stimmung. Fast hat es den Anschein, als ob der Charakter in den letzten Zügen eines gedanklichen Konstruktes steht, oder aber dieser Gedanke ist bereits abgeschlossen und es wird über die Richtigkeit nachgedacht. Ein Hauch Schwermut umweht das Bild, so leicht und flüchtig wie der Qualm der brennenden Zigarette ... .
Das Album ist Turning Point betitelt. Das ist ein Punkt, an dem eine ganz entscheidende Veränderung eintritt. Ein Punkt, an dem eine Richtungsänderung vollzogen wird:
"Turning Point, der Titel fliegt mir zu - in Lingueglietta, einem bezaubernden Bergdorf über Lorenzo al Mare. Ich sitze in der Sonne und höre meine ersten Mixe, schaue auf das Meer und lasse die letzten Jahre Revue passieren. Der Tod meiner Mutter hat mich verändert, unsere wunderbare Tochter wird erwachsen, unser Sohn befindet sich im Stimmbruch und ich mich im Aufbruch, am Wendepunkt meines Lebens."
Please press play:
Bass, Fingerschnippen, Gitarre. Bereits das erste Lied verströmt genau die Stimmung, die ich vermutet hatte. La Terraza geht in die Beine, Swing ist hörbar. Nachdem Caro Josée den Song mit einer Mischung aus Gesang/ Sprechgesang vorträgt, hören wir ein schönes kleines Gitarrensolo. Das Klavier spielt dazu eine bestimmte aber zartbittere Melodie. Die Sehnsucht nach einem Ort, der sich in Verklärung und Ernüchterung zeitgleich auflöst, weil der Alkohol seine Wirkung zeigt:
They make Mojito's like nobody else before
That's what they're famous for
After a few, I mean more than two
I felt that I can take no more ... .
Mit Nostalgie und Romantik pur beginnt Paris. Wir hören zu Beginn leicht verzerrte Streicher aus der Vergangenheit. Die hiesigen Geigen übernehmen die Melodie und führen sie in die Neuzeit. Ein wunderbar relaxter Anfang. Wir schliessen die Augen und Caro Josée führt uns in die beleuchtete Stadt an der Seine, vorbei an Saint Germain, La Cigale und BeBop Bars ... Cool Jazz, Chet Baker(!) und Duke Ellington. Alles das umgarnt von einem weichen Streicherarrangment. Aufregend zu hören, wie die Sängerin einzelne Wörter und Silben betont, auslässt oder überbetont. Nicht nur der Traum von vergangenen Zeiten ist wunderschön, auch der Song ist es. Paris weckt Sehnsüchte ... immer!
Eine Trompete mit Dämpfer, leicht gedrückte Stimmung. The Lawyer's Wife. In Rückblenden erfahren wir von einer Beziehung aus vergangenen Zeiten in Mexiko. Die Trompete und das perfekt gespielte Schlagzeug unterstützen den Text, die Trauer, in musikalischer Form, spielen den Song weiter. Ein Lied über Entfremdung, Hingabe und unterdrückte Leidenschaft.
Jugendliche Unvernunft durchwebt Night Time. Nach den ersten Songs fühle ich mich wohl in der Welt von Turning Point. Ein entspanntes Ensemble begleitet die Sängerin, die jede Zeile so singt, als hätte sie die Erfahrungen, die sie besingt selbst gemacht. Bei Schauspielern würde man das Method Acting nennen.
Plötzlich wird es fetzig, schnell, markant! Ein unverhoffter Stimmungswechsel in Bouillabaisse. Ein besungenes Rezept: Das nenne ich originell! Wollte ich gerade noch meine Füsse hochlegen, würde ich jetzt am liebsten mit einer Schürze bekleidet durch die Küche wirbeln. Eine humorvolle Intermission.
Akkorde, Melodie und Klangfarbe künden es unmissverständlich an: wir befinden uns in Italien. Mona Lisa Liut: Ein Song wie ein kleiner Film. Mona Lisa ..., ein schlaue Dame, die Casanovas, Machos und Scheiche um den Finger wickelt. Ein l(i)ustiger Moment.
A Love Like This zeugt von der Menschenkenntnis und moralischen Zuversicht einer Frau, die scheinbar betrogen wurde. Wieder intoniert eine gedämpfte Trompete die Emotionen, streicht der Besen über die Drums. Ein präziser und schnörkelloser Song, der ohne viel Aufhebens daher kommt und überflüssigen Ballast vermeidet.
Wo sind die Sterne am Himmel? No Stars In My Sky ist pure Sehnsucht, die Hoffnung einen Menschen zu finden, der sich mehr über Charakter definiert als über sekundäre Merkmale und Materie. Ein nachdenklich stimmender Song mit einer schönen Symbiose aus Text und Musik, eine kleine Ode an die Wahrhaftigkeit der Romantik mit musikalisch dezenten Improvisationen auf Gitarre und Klavier. Schöner Titel!
Schunkelstimmung in SOS. Blues und Humor mit einer Prise Realität für alle Singles:
"When I'm coming home after work is done,
Then the stereo's the only sound.
No conversation to share - nobody's there,
To be free means to be all alone."
It's Impossible beginnt mit graziösen Streichern. Nicht erst hier wurde ich durch dieses Album euphorisiert. Ich liebe solche Musik. Auch hier zeigt sich wieder, wie sorgsam und effizient die Arrangements sind. Sowohl das Timing von Caro Josée ist makellos wie auch die Instrumentierungen. Grosse Klasse!
Cello und Klavier läuten Mi Amor ein, den letzten Titel des Albums. Eines ist sicher: Diesen Song werde ich in 7 Monaten wieder hören, dann wahrscheinlich den ganzen Tag lang.
http://www.carojosee.com/multimedia.htm
Turning Point ist ein formvollendetes und glanzvolles Album geworden und meine Intuition hat mich nach dem Betrachten des Covers nicht getäuscht. Zwar sitze ich auch in Gedanken vertieft an einem Tisch, vor mir aber steht ein halbvolles Glas mit goldgelbem Bourbon und hinter mir liegen 50 min. erlesene Musik.
Die Platte hat Style und eine samtene Grandezza.
Erinnerungen kamen hoch an Zeiten, in denen Crooner binnen weniger Minuten ein ganzes Universum erschaffen konnten. Bis auf It's Impossible stammen Musik und Texte ausschließlich von Caro Josée mit Unterstützung von Andreas Paulsen (La Terraza und A Love Like This), Martin Scheffler (Bouillabaisse), Manusch und Enzo Weiss (Mona Lisa Liut). Eine beachtliche Leistung wie ich finde, wenn auch offensichtliches keiner Verbalisierung bedarf.
Turning Point hat textliche und musikalische Qualitäten, die es in der Flut der Veröffentlichungen deutlich hervorhebt. Ein originäres Werk mit einem romantischen und melancholisch-hoffnungsvollen Subkontext. Ein Album für die sehr späten Stunden am Abend.
Jazz, Blues und Sinti-Jazz geben sich die Hand und werden u.a. dargeboten von Musikern wie Jean Jacques Kravetz (Fender Rhodes), Andreas Paulsen (Piano), Martin Scheffler (Gitarre), Manusch Weiss (Gitarre) und Reiner Winterschladen (Trompete).
Ich wünschte Francis Albert Sinatra würde noch leben.
Mit Caro Josée würde er ohne zu überlegen ein Duett singen.
Rick Deckard
Bildquellen/ Copyright: www.carojosée.com