1917 - Sam Mendes

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  31. Oktober 2020, 00:20  -  #Filme

1917 - Sam Mendes

Friedlich schlummern zwei Soldaten in der Nähe eines Schatten spendenden Baums. Fast schon idyllisch mutet die Szenerie an, würde man an ihren Kostümen nicht erkennen, dass ein Krieg wütet. Es herrscht Stille, keine Bewegung, kein Geräusch stört den Frieden, bis ein Vorgesetzter auftaucht und einen der beiden auffordert, sich einen Kameraden zu suchen und ihm zu folgen. Sie haben einen Auftrag auszuführen.

1917 hat eine Qualität, die wenige Filme auszeichnet: Er lässt einen nach der Betrachtung nicht mehr los. Er beschäftigt einen. Immer wieder kehren Bilder zurück ins Gedächtnis. Was ist es, dass den Film aus der Masse hebt? Warum beschäftigt er einen?

Es ist die Art eine Geschichte in bewegten Bildern zu erzählen.

Es sind die Bilder.

Es ist die Erinnerung an eine vergangene Zeit.

Die Art, wie Mendes die Geschichte erzählt, ist bemerkenswert. Als Zuschauer ist man vom Anfang bis zum Ende sehr eng am Geschehen. Es ist fast so, als wäre man live dabei. Von dem Moment an, von dem die beiden Soldaten aufbrechen, um eine taktisch wichtige Nachricht zu überbringen, bis zur letzten Einstellung, ist man als stiller Beobachter anwesend. Diese enge Nähe zum Geschehen ist ein herausragender Grund für die Wirkung des Films.

Als Mensch, der man an Geschichte interessiert ist, fragte ich mich oft, wie es wohl im I. Weltkrieg für die Soldaten, Menschen wie Du und ich, gewesen sein muss? Wie haben Sie die Gräuel ertragen, was umgab sie, wie sah es aus in diesen Gräben, von denen berichtet wird? Wie ein Kriegsberichterstatter erfährt man das am eigenen Leibe, als die beiden aufbrechen, um durch Niemandsland und Feindesgebiet zu den eigenen Truppen zu gelangen.

Die Kunst eine Geschichte filmisch mitreißend zu erzählen​​​​​, liegt nicht nur an der Geschichte selbst, nicht nur an den Schauspielern, den Bildern und der Musik, v.a. liegt es am Rhythmus, am Schnitt, am Tempo. Hier liegt die grösste Kunst von Mendes, denn er suggeriert einen Film ohne Schnitte, so als ob man vom Anfang bis Ende ohne Pause, ohne Unterbrechungen dabei ist. Das ist ihm famos gelungen.

1917 ist atemberaubend und wenn ich meine, der Film raubt einem den Atem, dann ist das bildlich gemeint. Es herrscht Hochspannung von dem Moment an, an dem die beiden aufbrechen. Kluge Regisseure spielen mit den Erwartungen des Zuschauers und das gelingt Sam Mendes in Perfektion. Nie weiß man, was als nächstes geschieht. Immerzu hofft man, dass die beiden unbeschadet ihr Ziel erreichen. Und die Zeit rinnt, Stunde um Stunde, Minute um Minute, Sekunde und Sekunde. 

Brillante Erzählform, technisch perfekt umgesetzt.

Die Bilder sind unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Das liegt an den Fähigkeiten des britischen Kameramanns Roger Deakins. Er zählt für mich neben Frederick A. Young, Vittorio Storaro, Robert Richardson und Conrad L. Hall zu den begnadetsten seiner Zunft. Das erste Mal, dass ich bewusst aufmerksam auf ihn wurde, waren seine Bilder zu dem Coen Meisterwerk NO COUNTRY FOR OLD MEN. 

1917 - Sam Mendes

In 1917 führt uns Deakins über die Helligkeit ins Dunkle, wieder ins Helle, in den Himmel, auf den Boden und die finstersten Abgründe der Hölle, um durch tosende Fluten wieder an die Oberfläche zu gelangen. Die Kameraführung trägt zu einem großen Teil der Wirkung des Films bei. Die Bilder aus den Gräben, die Bilder aus dem Kriegsgebiet mit zerstörten und verlassenen Landschaften, die Bilder der Nacht in einer zerstörten französischen Stadt mit flackernden Feuern, die Bilder, mit denen man den Soldaten in die Gräben folgt sind von beeindruckender Schönheit, so anachronistisch das im Zusammenhang mit einem Kriegsfilm anhören mag. Aber ohne diese "zeichnerische Kunst" von Deakins würde der Film nur die Hälfte seiner Wucht entfalten.

1917 erinnert an eine vergangene Zeit. Wer sich umfassend mit diesem Thema beschäftigen will, dem empfehle ich von Jörn Leonhard DIE BÜCHSE DER PANDORA - Geschichte des ersten Weltkriegs. Eben einen Teil dieser Ära visualisiert Mendes mit 1917. Es ist keine Aufgabe eines Films komplexe politische und geschichtliche Zusammenhänge zu erklären, er erzählt eine Geschichte in bewegten Bildern. Und diese Erzählung aus vergangenen Zeiten ermuntert den Zuschauer, sich mit dieser geschichtlich so bedeutsamen Zeit zu beschäftigen. Ein Verständnis für die Gegenwart erschliesst sich im Rückblick. Ohne Vergangenheit keine Gegenwart.

Mendes erzählt seine Geschichte wie eine Ellipse. Am Ende führt er uns wieder zurück in die Natur, in die friedfertige Idylle einer Landschaft mit Bäumen, grünen Feldern, blauem Himmel, Wolken. Dazwischen erzählt 1917 vom menschlichen Irrsinn, von vollkommen irrationalem Handeln, von Gewalt, Tod, der Hölle auf Erden. Dadurch, dass der Film dort endet, wo er beginnt, ein feiner Clou, wird dem Zuschauer der ganze Wahnsinn erst bewusst.

An dieser Stelle empfehle ich Ihnen die lesenswerte Besprechung von Alan Lomax zu diesem Film, insbesondere die letzten beiden Absätze, in denen er prägnant die Machart des Films auf den Punkt bringt. Auch war es Lomax, der mich motivierte den Film zu sehen, nicht nur wegen seiner Besprechung. Er kennt mich und meine Vorlieben. Ich stimme ihm zu, dass der Film nicht zu Herzen geht, aber an dieser Stelle entgegne ich: Muss er auch nicht. APOCALYPSE NOW tut das auch nicht, trotzdem wirkt der Film und beeindruckt bis heute. Anders bei THE DEER HUNTER, der emotional unglaublich aufwühlt und wie kaum ein anderer Film zu Herzen geht. Maßgeblich ist aber, und das eint Lomax und mich, lesen sie den ersten Absatz, dass der Film ihn beschäftigt hat, also hat er in irgendeiner Form eine Wirkung hinterlassen.

​​​​​​​1917 ist ein Meisterwerk.

Einer der besten Kriegsfilme.

Rick Deckard

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