FONT (US) – Strange Burden (Acrophase Records)

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  9. August 2024, 15:15  -  #Plattenkritik, #Font US, #Strange Burden, #Akrophase Records

FONT (US) – Strange Burden (Acrophase Records)

In der guten alten Zeit, als Indie-Rock noch ein Genre war, kauften wir jede Vinylschallplatte von fast jeder amerikanischen und englischen Gitarrenband, und Konzerte waren eine Messe, kein Selbstbildnis für Instagram. Oft sprachen wir von Bands oder Künstlern, die die besten aller Zeiten sind.

Heute geht alles schneller und größer. Obwohl wir mehr Geld zur Verfügung haben, können wir weniger Vinyl kaufen, da viele Alben inzwischen weit über 30 Euro kosten. Wir sind gezwungen, automatisch zu selektieren. Ich liebe die Digitalisierung, also werde ich mich nicht in nostalgischen Klagen verlieren und uns allen weitere Tiraden ersparen. Doch vermisse ich dennoch etwas: die Empfehlung guter Musik von vertrauten Menschen. Sei es der Plattenhändler um die Ecke oder ein geliebter Mensch, solche Empfehlungen erhalte ich kaum noch.

Stattdessen erhalte ich aufgrund meiner Tätigkeiten jeden Tag unzählige Promo-E-Mails, in denen mir die "tollsten" Sachen angeboten werden. Die Hoffnung auf die "beste Band der nächsten Jahre" oder den "Song, den man nie vergisst", wird in den Pressetexten oft angepriesen.

Verlässliche Publikationen muss ich lange suchen. Einigen vertraue ich, einige enttäuschen mich immer wieder. Oftmals gibt es einfach zu viel, und das digitale Durchhören verleitet ehrlich gesagt häufig zum schnellen Skippen. „Skippen“ ist ein Begriff aus der Zeit der CD-Player: Gefiel einem ein Song nicht, wurde er einfach übersprungen. Auf den Dashboards der Streamingdienste geht das heute noch viel schneller. Es ist ein Hamsterrad, in dem wir uns befinden. Die Vorwürfe und der regelrechte Hass, den ich früher gegenüber Menschen empfand, die Musik nur oberflächlich hörten, haben sich in mich hineingefressen. Böse Geister haben mich ergriffen, und ich frage mich, wo der Indiependent-Exorzist ist, der sie austreiben könnte.

FONT ist eine neue Band aus Austin, Texas. Sie wurde mir kürzlich empfohlen und sogar für ein Konzert vorgeschlagen. Die Quelle ist absolut vertrauenswürdig und Teil eines famosen, selbst erstellten Netzwerks, das auf jahrzehntelanger Erfahrung beruht.

Mit dem zweiten Takt des ersten Songs „Hey Kekulé“ fühlte ich mich sofort an die Talking Heads erinnert. Nachdem ich mit meiner Quelle (Hey …x, wenn du willst, nenne ich dich noch nachträglich, damit historisch verbürgt ist, dass du diese vollkommen zutreffende Beschreibung angewandt hast) sprach und sagte, dass sie wie die bösen Cousins der Talking Heads klingen, fühlte ich mich bestätigt. Eine großartige Grundvoraussetzung, um eine neue Band zu entdecken und sie zukünftig zu umarmen und nie wieder loszulassen.

Amerikanische Bands, die in Europa Erfolg haben wollen, haben es nicht leicht. Um auf den bekannten Festivals zu spielen und die Booker der wichtigen Clubs zu überzeugen, bedarf es nicht nur eines handwerklich und wirklich famosen Debütalbums, sondern auch einer Vita, die sich ja, logischerweise, erst nach der Veröffentlichung des Albums entwickeln kann. Thom Waddill, der Frontmann des Quintetts, scheint jedoch einen guten Vorab-Plan gehabt zu haben. Die Band hat in jedem Kellerclub in Texas gespielt und sich über drei Jahre auf den Release vorbereitet. Es vergingen weitere Jahre bis zur ersten Veröffentlichung von „Sentence I“, und erst Monate später folgte „I“. Jahre später liegt nun das aktuelle Album vor. Zwischenzeitlich spielte die Band auf dem berüchtigten SXSW Festival, was naheliegend ist für eine Band aus Austin. Doch eigentlich auch nicht. Ich versuche seit Jahren, FOVOS ALIF bei der c/o pop zu platzieren, aber dort wird lieber Autotune und DIY-Musik von vermeintlichen Chartstürmern vorgestellt, die sich für Deutschlands alternativen Untergrund halten und, wie gesagt, bereits beim Pressetextschreiben scheitern. Aber das nur nebenbei. FONT spielte dann als Support für die grandiosen YARD ACT, und die Bekanntheit in den geschlossenen Netzwerken nahm ihren Lauf. Gut so. Nun spielen FONT am 6. November in Paris beim Petit Bain Festival und ein paar Tage später in London beim Pitchfork Festival. Den weiteren Verlauf kann sich jeder vorstellen, der schon mal etwas mit diesem Bereich zu tun hatte.

Das gesamte Album Strange Burden ist extrem verwirrend. Es beginnt mit einer Spielzeit von noch nicht mal 30 Minuten und sieben Songs, die von siebzig verschiedenen Bands stammen könnten und erstmal keine tiefere Konsistenz aufweisen. „LOOKING AT ENGINES“ ist so ein Fall und steht exemplarisch. Völlig im Post-Punk-Himmel gefangen, beginnt dieses Monster und geht bereits nach einer Minute in eine Indie-Rock-Hymne über, die von The Killers oder, schlimmer, von U2 stammen könnte. So ist es auch mit allen anderen Tracks. Ständig hören wir etwas anderes: Der bereits erwähnte Song „HEY KEKULÉ“ ist eine klare Factory-Keule. Doch mit den Percussions und der Kuhglocke dann wieder nicht und eher im Duktus der Post-Punk- und Funkrebellen New Yorks, den Talking Heads. Der bereits etwas ältere Song „IT“ ist ein treibender Dance-Track im Stile von LCD Soundsystem und erinnert mit dem Gekratze sogar an JUSTICE. Die Stimme fleht und ist stets dissonant. So geht es weiter und fängt wieder von vorne an, denn niemand wird von diesem Wirrspiel jemals genug bekommen: Eklektisch, verwirrend, ansteckend, grübelnd, tanzbar, stadiontauglich, aber auch sinnstiftend für jeden kleinen Club, wo der Schweiß von den Wänden tropft.

Diese Band und das Album halten die Spannung, und die Musik von FONT ist intensiv wie lange nichts mehr. Zudem scheint Frontmann Waddill ein lustiger Intellektueller zu sein. Weshalb sollte er sonst von ringförmigen Molekularstrukturen des chemischen Stoffes Benzol sinnieren oder sich damit beschäftigen, weshalb sein Vater Pfirsichkerne (!) isst?

Wut und Euphorie sind zwei Worte, die mir hier zuletzt einfallen. Diese Band ist wirklich spannend, und die Platte ist bisher die neuartigste und innovativste, die ich in diesem Jahr gehört habe. Sie packt mich. „Cattle Prod“ habe ich gerade zigmal hintereinander gehört. Eigentlich ein Welthit von Radiohead von vor 20 Jahren. Doch auch andere Indiepop-Täter fallen mir ein. Der Song ist ein Hit, scheint aber auch keinen Subtext zum Album zu haben. Diese zeitgemäße Sichtweise einer schlecht kuratierten Compilation könnte ein genialer Kniff der Texaner sein und somit ein in sich geschlossener Wendepunkt in der Kunst – endlich wieder progressive Ansätze über Humor und die Überwindung der Massen. Ähnliche Bewegungen gab es mal in England, Kalifornien, Leeds oder Manchester… Ich glaube an diese Band, auch weil sie viele erreichen wird und nicht nur auf den experimentellen, sondern auch auf den mentalen Moment abzielt.

Aus dem Bauch von James Arthur
Alan Lomax


 

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