Billy Bragg Köln 27.11.2017 GLORIA Köln -Live-
Billy Bragg hat es nicht leicht! Das endlose Touren stumpft ihn so sehr ab, dass er sich tägliche Aufgaben stellt. Zum Beispiel, erzählte er gestern von der Challenge, sich echte deutsche Pfefferminzbonbons zu kaufen. Heute will er sich mit deutschen Zahnbürsten beschäftigen, bis sein nächster Auftritt ansteht. Aber „hard“ muss sie sein. Nicht „soft“, „medium“ oder „hard“ sondern „hart“ auf Deutsch?.
Nicht immer gelingt ihm an diesem Abend, der Empfang bzw. die Aussendung seiner teils ausufernden Gedanken zur Weltlage, Veränderung der sozio-kulturellen und –politischen Sichtweise und seines eigenen milden Alterungsprozesses vom wütenden Punksängers hin zum politischen Folksänger, bei dem Publikum, dass je nach perspektivischer Sicht, mit ihm gewachsen ist bzw. in Würde gealtert ist bzw. genau das erwartet, obwohl er doch, nach eigener Aussage, viel mehr Liebeslieder geschrieben hat. So sieht man, wie in einem Comicstrip, einen „Bunch of“ Fragezeichen, wenn der Engländer von seinem Idol Woody Gutherie berichtet oder versteckt zwischen den Zeilen popkulturelle Liebesbekundungen zu den SPECIALS oder Kirsty MacColl gibt oder eben Dickerchen Morrissey diskreditert.
Billy Bragg und ich sind seit 1984 musikalisch und seelenverwand verkettet. Als damals 14 jähriger war LIF’s A RIOT WITH SPY Vs. SPY eine meiner ersten selbstentdeckten Platten und gehört bis heute zu den fünf Alben, die ich mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Als wenig später TALKING WITH THE TAXMAN ABOUT POETRY rauskam war es endgültig um mich geschehen. Billy Bragg begleitete mich danach permanent und ich habe jeden seiner Schritte verfolgt. Klar, dass der Empfang von Informationen dann etwas möglicher ist.
Natürlich ist es immer einfach nach dem gefühlten zehnten Konzert eines seiner Superstars zu sagen, dass es das Beste war. Aber wer diesen Blog hier aufmerksam in den letzten fast 10 Jahren gelesen hat, wird mir unterschreiben, dass ich auch schon Ikonen vom Sakralen Sockel gestoßen habe. Somit muss ich auch leider bestätigen, dass die letzten beiden vergangenen Kölner Bragg Konzerte nicht die besten waren.
Vielleicht liegt es an dem Futter, dass der Barde derzeit geliefert bekommt, vielleicht aber auch an seiner Lebensphase, die ihn unglaublich jugendlich, frisch und fast geläutert erscheinen lässt im Jahr 2017. Und vielleicht liegt es auch der tollen Auswahl der Songs am gestrigen Abend:
Vollgespickt mit eben meiner Lieblingsnummern von GREETINGS TO THE NEW BRUNETTE über MUST I PAINT YOU A PICTURE bis hin zu THE MAN IN THE IRON MASK. Grandios das gewagte aber gekonnte Bob Dylan Cover von THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘ BACK bis hin zu dem unvermeidlichen und gewollten A NEW ENGLAND. Allerdings auch mit dem bisher zumindest live selten gehörten Verse, den er für besagte Kirsty Mac Coll 1985 geschrieben hat.
Und zwischen zei(t)lich hat dieser famose Lyriker, Poet, Musiker und Kämpfer auch gelernt über seine früher etwas vielleicht zu Dogmatischen selbst auferlegten Mauern zu sehen und philosophiert über Empathie und die sogenannte Heuristics-and-Biases-Schule.
Das kann schon mal etwas länger werden. Lässt man sich aber darauf ein, stellt man fest, was für ein großer Redner, aber auch Entertainer dieser Mann ist. Unfassbar, seine rhetorischen Fähigkeiten, sein immer vorhandener Witz und seine Ehrlichkeit, verletzliche Rauheit und gleichzeitige Wendung zum englischen Gentleman, mit distanziert, scharf und sarkastischen Blick auf alles.
Zusammengefasst ist vielleicht I KEEP FAITH dann auch der Billy Bragg Song der Stunde oder dieser, seiner Dekade. Ich behalte den Glauben! …dieser unglaubliche Song, mit schöner Melodie und leidenschaftlichem Moment des Kopfgesangs hin zu einer der besten Bridges der Musikgeschichte am Ende des Mittelteils.
Man muss kein Billy Bragg Kenner oder Liebhaber sein, um zu verstehen, dass dieser Mann in seiner eigenen Liga spielt. In Zeiten wo der Protestsong ehr die Anmut einer gehäkelten Klopapierdecke hat, steht dieser glühend und fast waghalsig auf der Bühne und versprüht Leidenschaft, bis es auch die letzte Maus im Gloria erwischt hat. Und wer weiß, vielleicht lesen ein paar Leute ja doch noch sein tolles Sachbuch „Roots, Radicals and Rockers“ in dem es um die Skiffle-Legende Lonnie Donegan geht, der wohl mehr als jeder andere die Wurzeln für jegliche moderne Pop- und Rockmusik aus England gelegt hat. Somit beweist Bragg nach seiner Verehrung für Gutherie und seiner Zusammenarbeit mit Wilco & Joe Henry, was amerikanische Roots angeht, auch mit dem Auseinandersetzen der nationalen musikalischen Wurzeln, dass er die Skills eines Alan Lomax (Musikforscher nicht Blogautor) hat.
„Die Zeit“ beschrieb Billy Bragg als „Europas politischsten Liedermacher“. Kann sein! In dieser Zeit der Veränderung, der Frage, der Angst und des Umdenkens, brauchen wir aber mehr als den „politischsten Liedermacher“. Wir brauchen genau diesen Billy Bragg, der gegen die politische Dummheit, den Internet-Idioten und Rassisten, seine Faust ballt und frontal POWER TO THE UNION singt bzw. uns nachdenklich zurücklässt, um zu überlegen, weshalb der spanische Künstler Francisco Goya mit seinem Bild „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ ihn zu dem großartigen Song THE SLEEP OF REASON inspirierte.
Überhaupt macht es Sinn mal wieder über das Wort Haltung nachzudenken! …und natürlich auch mal wieder bei Musik zuzuhören, abzuleiten und sich thematisch damit auseinander zusetzten.
Diese übrig gebliebenen Ikonen aus den 1980ziger Jahren mit Nachhaltigkeit und permanenten „Daseins“, sollten wir alle mehr Respekt zu kommen lassen und sie vielleicht auch klein wenig verehren….
Aus einem Zug durch Amerika mit Joe „Henry“ Deckard!
Alan Lomax