Orgelstunde, Gewandhaus zu Leipzig, Samstag 31.03.2012
Sich im Leben von vorgefassten Meinungen frei zu machen ist ein unbedingt notwendiger Prozess und eine wichtige Weiterentwicklung. Selbstreflexion spielt dabei immer eine grosse Rolle. Warum hört man bevorzugt etwas, warum nicht, welche Argumente spielen dabei eine maßgebliche Rolle? Ich muss zugeben, dass mir etwas mulmig zu Mute war, als am Abend der Besuch der Orgelstunde im Gewandhaus anstand.
Die Orgel ist ein Instrument, welches ich in heimischen Gefilden nicht regelmässig höre, geschweige denn Werke auf CD oder Platte erwerbe. Abgesehen davon sollte man das auch nicht tun. Sie ist ein technisches Meisterwerk und ihr Klang sollte einem Konzert mit einer entsprechenden Akustik in einem entsprechenden Raum vorbehalten bleiben.
Wenn man das Gewandhaus in Leipzig betritt, so verharrt man erst einmal in Ehrfurcht. Allein die Tatsache, wer schon alles dort gespielt haben mag, lässt einen tief durchatmen. Als erstes fällt natürlich die Architektur ins Auge, die nur für sich genommen einen Besuch wert ist, sowohl von außen als auch von innen betrachtet. Dazu kommt die fabelhafte Akustik, die als solches nur vor Ort wahrgenommen werden kann und sollte.
Die Orgel ist unübersehbar, so offensichtlich sich das anhören mag. Dieses Gebilde aus einer riesigen Anzahl an Pfeifen, in verschiedenen Durchmessern und geometrischen Formen ist imposant. Hier kommt das zum Zuge, was ich oben im ersten Absatz schrieb: binnen Sekunden nach den ersten Tönen waren alle vorgefassten Meinungen über dieses Instrument in einem verflogen.
Zu Beginn der Karwoche wurde entsprechende Musik dargeboten. Es spielte aber keine Rolle, denn die Töne die dieses Instrument hervorbrachte waren effektvoll und das in jeglicher Hinsicht. Reizvoll bei Konzerten jedweder Art ist für mich die Beobachtung der spielenden Personen nebst des musikalischen Impetus: wie die Musiker mit einander kommunizieren. In diesem Fall waren zugegen:
Michael Schönheit: Orgel
Friederike Holzhausen: Sopran
Dirk Schmidt: Bass
Katharina Dargel: Viola
Trotzdem die Orgel ein mächtiges Instrument ist, war die Kombination ihres Klangs mit einer Viola das für mich am meisten staunenswerteste Erlebnis, gleichwohl beide natürlich räumlich voneinander getrennt waren. Ohne zu viel des Lobes zu sein, selbstverständlich setzt eine solche Kommunikation viel Übung und Talent voraus, die Präzision mit der die Musiker spielten war außerordentlich. Der Klang einer Viola ist nebenbei höchst anmutend und verführerisch.
Zur menschlichen Stimme hatte ich bereits im Artikel zur Motette geschrieben, aber auch in diesem Fall ist das Timbre einer Sopranstimme bemerkenswert. Schwer zu beschreiben in der Wirkung, aber warum eine solche überhaupt erst ihre Wirkung entfaltet erkennt man wirklich nur dann, wenn man sie Live hört.
Diese Ausführungen mögen bei regelmässigen Konzertgängern nur ein müdes Gähnen hervorrufen, ich selbst empfand es dessen ungeachtet als ungemein faszinierend und bewegend und habe viele neue Erkenntnisse dazu gewonnen.
Ich musste in diesem Zusammenhang an die Worte eines Chet Baker denken:
"(...) Because nowadays, you know, it's hard to get people out - to get'em away from the TV sets. Many people prefer just to stay home and listen to their records; they don't go out to the clubs or to the concerts."
(Aus den Liner Notes von Chet Baker at the Salt Peanuts Club 1981).
Das hat sich nach dieser Orgelstunde und meinem Aufenthalt in Leipzig definitiv geändert. Wenn Riccardo Chailly im Herbst Beethoven aufführen wird, werde ich dort sein (und berichten).
Rick Deckard
Bildquelle: © 2012 Gewandhaus zu Leipzig