Ti Amo - Phoenix

von Rick Deckard  -  3. September 2017, 16:26  -  #Populäre Musik

Ti Amo - Phoenix

Kennen Sie das Gefühl, wenn Musik manchmal eine körperliche Reaktion auslöst? Die Bandbreite reicht von der wohligen Gänsehaut bis zum Brechreiz. 

Ich höre Musik, seit dem ich denken kann. Im Laufe der Jahre eignet man sich eine bestimmte Methodik an, mit der man sich neue Musik erschliesst. Die Methode ist ganz einfach: Musik hören. Das ist nicht so offensichtlich wie sie denken mögen! Der Hörprozess erfolgt willkürlich, die Verarbeitung jedoch unbewusst. Über Jahrzehnte legt sich unser Gehirn eine riesige Datenbank zu und mit der werden die neuen Daten, die man über das Ohr aufnimmt, abgeglichen, verglichen, bewertet.

Die Technik hat, wie alles im Leben, Vor- und Nachteile. Der Vorteil besteht darin, sich blitzschnell orientieren zu können (gefällt es mir, oder nicht?), der Nachteil, dass man dadurch vorschnell kategorisiert und nicht offen genug ist für "neues".

Als ich die ersten Takte des ersten Titels auf dem Album hörte, entwickelte ich einen Brechreiz. Hätte ich nicht zugesagt über dieses Album zu schreiben, hätte ich sofort auf Stopp gedrückt. Nun ist es nicht so, dass ich diesen Reiz etwa nur bei Ti Amo verspüren würde, er kommt gelegentlich auch in anderen Genres vor, wie Filmmusik, Klassik, Jazz etc. Ich habe Selbstreflexion betrieben. Er trat oder tritt immer dann auf, wenn ich etwas wirklich über habe, oder anders ausgedrückt ein bestimmter Stil, ein ästhetischer Ausdruck zum wiederholten Mal präsentiert wird. Ähnlich wie bei einer Kuh, oder bei Wiederkäuern im allgemeinen.

Oh mein Gott! Es war eine einzige Quälerei. Ich hätte auch gleich nach dem ersten Stück abschalten können, aber dann würde man dem Album nicht gerecht werden. Ti Amo ist so ziemlich das langweiligste und uninspirierteste, was ich zuletzt in der Popmusik gehört habe. Öde, schlimmes Plagiat und, das ist meine schlimmste Befürchtung, eine Verarschung der Konsumenten ("kaufen doch eh alles, egal, was wir machen"). Aber das werde ich nicht belegen können.

Casio-Bontempi Orgel, schlechter Gesang, endlose Synthesizer Cluster, furchtbare, verzerrte und billig klingende Harmonien. Man weiss gar nicht, wo man in der Hölle des Negativen anfangen und wo aufhören soll? Popmusik dieser Art ist so überflüssig wie Glatteis am Montag morgen.

Es gibt zahllose solcher Alben, die Monat für Monat auf den Markt geworfen werden und alle diese Alben, um vielleicht Rutger Hauer in einem anderen Kontext zu zitieren "will be lost in time, like ... tears in rain!". 

Ganz furchtbare Musik.

Ti Amo - Phoenix

Ganz grossartige Musik: United.

Nun gibt es neben der eigenen Meinung auch die Kehrseite der Medaille, die Ansicht und die Meinung der anderen. Die gilt es zu respektieren und zu verstehen. Popmusik-Legende und Befindlichkeitstitan Jochen Distelmeyer sprach einmal irgendwann von der "Schönheit der Erkenntnis". Dieses Statement ist wichtig im Zusammenhang mit der Rezeption der unsäglich schlechten Musik von Ti Amo.

Ich möchte dies an einem andern Beispiel einmal erklären:

Ti Amo - Phoenix

Vor kurzem habe ich NO COUNTRY FOR OLD MEN wieder gesehen, einen Film, den ich seit seiner Erscheinung bewundert habe und der aufgrund eines Ereignisses vor vor kurzem noch mehr an Bedeutung gewonnen hat: Ich las über Filme der 00'er Jahre und einen Essay über den Wandel der Zeit im Kino, bei der dieser Film auch sehr ausführlich besprochen wurde. Sie können sich nicht im entferntesten vorstellen, wie peinlich berührt ich war, nachdem ich die tiefgehende Analyse dieses Meisterwerks gelesen hatte! Um es in einem Satz zusammenzufassen: Mir ist soviel entgangen, ich war beim zweiten und dritten Betrachten so unaufmerksam gewesen ... ! Unglaublich, was die legendären Coen Brüder durch diesen Film aussagen wollten und wie sie es gemacht haben.

Was hat das mit Ti Amo und Phoenix zu tun?

Nun, jemand, der mit Popmusik sozialisiert wurde, viel Musik erlebt, gehört, vielleicht auch selber gemacht hat und sich intensiv damit beschäftigt hat, wird dieses grottenschlechte Album der Franzosen vermutlich ganz anders aufnehmen. Er wird nach anderen Hinweisen beim Hören suchen, er wird vielleicht schmunzeln, weil ihm die musikalischen Querverweise geläufiger sind und der ironische Umgang mit ihnen, er wird gar nostalgische Gefühle entwickeln und über seine Jugend nachdenken, Urlaube mit den Eltern, Konsum von Eis, was auch immer. Er wird dieses Album ganz anders bewerten und andere körperliche Reaktionen auf die Musik entwickeln, wie einen erhöhten Puls, eine Gänsehaut, eine glückselige Stimmung.

Sie sehen schon, wie unterschiedlich die Herangehensweise an Musik, Kunst generell sein kann.

Die Frage lautet nur:

  • ​​​​​​​Ist es am Ende von Bedeutung zu wissen, was die Coens in ihren Film wie und wo eingebaut haben, um die Geschichte zu verstehen?

Nein.

Weil es am Ende nichts weiter als bloße Unterhaltung ist und auch immer sein wird.

Und bewertet wird am Ende nur, wie gut, oder wie schlecht wir uns unterhalten gefühlt haben.

  • Nutzt es dem Hörer etwas, die Musik von Ti Amo musikhistorisch verorten zu können?

Nein.

Weil es am Ende nichts weiter als bloße Unterhaltung ist und auch immer sein wird.

Und bewertet wird am Ende nur, wie gut, oder wie schlecht wir uns unterhalten gefühlt haben.

Überragt am Ende die Schönheit die Erkenntnis? 

Ich meine ja, weil wir ästhetische Lebewesen sind. Gefühle gehen über Gedanken.

Die Schönheit der Erkenntnis für mich lag am Ende darin, dass ich mich in vielen meiner Gedanken nach dem Hören von Ti Amo bestätigt sah.

Rick Deckard

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