Einsturz - Deutschland friert. Ist Punk noch zeitgemäß?
Ein reinigendes Klanggewitter.
Ein Album das extrem provoziert und polarisiert.
Musik, die sich erfrischend von dem ganzen Einheitsbrei unterscheidet, den ich zum Jahreswechsel kritisiert habe.
Welche Eindrücke bleiben, nachdem der letzte Ton erloschen ist?
Vielmehr, als dass ein Eindruck verbleibt, entwickeln sich Fragen in der Stille.
Die Band fordert sehr viel, sie kritisiert unentwegt und deckt permament auf. Die Frage lautet: Welche Lösungen hat Einsturz für all die Misere parat? Interessant wäre es gewesen Texte zu hören, die nicht alles bestehende in den Grund und Boden trümmern, sondern Alternativen aufzeigen, wie es anders gehen könnte. Aber das denke ich war nicht Sinn & Zweck des Albums. Vielleicht kommt die Antwort ja mit der nächsten Platte?
Wut, Frustration, Lüge, Ungerechtigkeit, soziale Ungleichheit, Kapitalismus-Kritik, sarkastischer Umgang mit bestehenden Werten und Normen. Einsturz bürdet sich bei 'Deutschland friert' viel auf. Freud hätte seine Freude gehabt: Das ist alles Triebabfuhr. Kultur, musikalische Kultur nicht als Triebunterdrückung, sondern ausleben der Triebe. Sublimierung heisst das Stichwort.
Kaputt: Druckvolle und "saubere" Riffs eröffnen das Album. Die Lyrics sind ein Wechselbad aus Romantik, tiefer Melancholie und unverrückbarer Realität. Aus diesen Gegensätzlichkeiten bezieht der Song seine volle Wucht. Schöne Eröffnung!
Welt verändern: Was für eine Mischung aus Frustration und Sarkasmus! Beim Hörer überwiegt aber am Ende ein deutliches Schmunzeln (zumindest bei mir). Das Gewissen des unaufgeklärten Teenies trifft hier auf die Reife des desillusionierten Erwachsenen. Der Refrain ist mit einer des besten des ganzen Albums. "Doch es ist wirklich gut zu wissen, dass man nicht alleine ist" heisst es da an einer Stelle. Gut zu wissen! Grosser Song!
Gegen den Strom: Kommt hier die Essenz des Punk mit voller Wucht? Ich habe den Song nicht verstanden. Rebellieren des rebellierens wegen? Wogegen? Warum? Bereits in den 50'er Jahren wusste es James Dean: "Rebel without a cause". Es gibt manchmal keinen Grund. Resignation macht sich am Ende breit. Deprimierend ist das. Musikalisch ist der Song sehr hitzig und treibend.
Propaganda: Ruft auf zum Wachsein. Gute Analyse menschlichen Verhaltens mit einer riesengrossen Portion Rohheit. Mit an Arroganz grenzender Sicherheit lacht die Band hier über eine Dystopie:"Ihr dürft Euch schon mal freuen auf das was alles noch passiert".
Stolz ist anders: Klasse Rhythmus am Anfang! Warum "anders sein" sich lohnt erschliesst sich durch den Text. Der Song ist ein Ausbund an Negativität und Anarchie. Hier stellt sich die Frage: Was will und kann die Band anders machen?
1000 Menschen: Schöne Melodie auf der Gitarre, pure Wut im Text. Der Song bezieht sich auf ein sehr wichtiges Thema: Die eigene Meinung! Exzellenter Refrain mit grossem Bezug zur heutigen Realität:"Tausend Menschen, Tausend Worte, Du suchst Dir das Beste raus, nur mit Deiner Meinung, ist es bei Dir so langsam aus". Da steckt eine grosse Menge an Wahrheit in den Zeilen.
Auserkoren: Was für ein Kontrast! Ruhiger Song. Tolle Melodie. Sehr einnehmend. Sehr bildlich formulierend. Das beste und zugleich schlechteste Lied der Platte, da äussert plakativ, polarisierend und polemisch.
Traurig aber wahr: Textlich extrem merkwürdig mit einem Gefühl der Ohnmacht.
Punkpiraten: Akustische Gitarre. Mainstream. Ein inhaltich zu früher Abschied auf der Platte. Hätte besser am Ende gepasst. Lustiges Mitklatsch und Schunkellied. Schöner Gegensatz zu fast allen anderen Liedern des Albums.
Deutschland friert: Die Band dreht im wahrsten Sinne des Wortes durch, musikalisch und textlich. Soziale Kälte. Grosses Thema. Welche Partei hat hier (zumindest ideell) gesponsert? Das politischste Lied der Platte.
Scherben bringen Glück: Eine sehr einfache und unoriginelle Antwort auf die Tugenden, die die Band da bietet! Vielleicht verständlich, aber keine Lösung. Ein Song, der unverblümt und mit voller Wucht die Wahrheit hinausschreit. Die ersten 4 Zeilen des 3. Absatzes der Lyrics sind die besten des ganzen Albums.
Krass: Klasse Bass und Schlagzeug am Anfang. Ein Horror-Szenario mit der Einsturz das Album beendet.
Es bleibt ein gutes Gefühl nach dem Hören der Platte zurück. Es gibt scheinbar noch Bands, die echte, unverblümte und ehrliche Musik machen. "Deutschland friert" bietet puren, harten, rohen und unverfälschten Genuss. Es reizt, es fordert zum Denken auf und v.a.: Es unterscheidet sich von der Masse!
Ja er ist es. Und: Nein, er ist es nicht.
Klasse Album!
Rick Deckard
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Bilder/ Video: Copyright Einsturz.
Cover: Thommes Nentwig
Bandfoto: Jessika Wollstein