Reincarnation of a Lovebird – Die Freitagabend Jazzmusikliste für alle

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  22. Oktober 2010, 19:33  -  #Jazz

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Deckard hat es heute morgen auf den Punkt gebracht: Bisher hatte der Alan Lomax/Rick Deckard blog, nicht so viele Besuche! Er schrieb: Merkwürdig! Finde ich auch und das alles nur wegen Stichworten Till Brönner und Dizzy Gillespie. 

Offensichtlich gibt es ein Horde von Menschen die sich für Jazz interessiert und vielleicht keinen Zugang bekommen. Und natürlich gibt es Puristen und Nerds die sich fragen, für was halten sich diese beiden Pseudo-Kulturataches eigentlich?

Die Antwort liegt immer in der Musik! Und somit habe ich mich zu einem leidenschaftlichen Jazz-Mix am Freitag entschieden, der sowohl Einsteigern und auch ehrbaren Fans dieser Kunst Freude bereiten sollte. Am Freitagabend sieht schon wieder  alles viel entspannter aus und somit empfehle ich nicht Musik zum nebenbei Staubsaugen oder für den Sonntagsbrunch, sondern zum konzentrierten Zuhören und Erahnen wozu, Jazzmusik in der Lage ist. Nämlich unfassbare nicht gekannte Gefühle zu wecken: 

Oscar Peterson – Nigerian Marketplace 

Ich höre sie rufen! Peterson als Einstiegsnummer! Komplizierter geht es nicht. Das ist was für Kenner! Finde ich nicht! Insbesondere diese von mir persönlich,  wegen ihrer Leichtigkeit, geliebten Struktur! Peterson geht hier einen famosen Weg. Das scheinbar beswingte afrikanische Grundthema geht im ersten Improvisationsteil einen aufholbaren Weg. Man kann den Jazz, die Improvisation aufholen –übrigens ist es genau das was den meisten ungeschulten Ohren auf die Nerven geht- Peterson holt das Thema immer wieder, scheinbar einfach, ab. Zurücklehnen, Augen zu machen, zu hören und einen neuen Kontinent erleben. 

Charles Mingus – Reincarnation of a Lovebird 

Der Beweis dafür das Freejazz ein Mythos ist! Sun Ra und John Zorn Fans, bitte weg gehört! Diese wunderbare Mingus Komposition beinhaltet eine der schönsten Melodien der Musikweltgeschichte! Die zarten Bläsersätze werden  kaum aufgebohrt, sondern ständig fortgeführt. Wenn man verstehen will, wie Musik funktioniert, sollte man genau zuhören. Der Saxophone Improvisationsteil am Anfang macht nichts anderes als die Noten des Themas in einer anderen Reihenfolge zu spielen. Und das ist schon alles. Was hier passiert: ...und generell im Jazz!... ist die Fortführung einer Melodie, die so schön, ist das sie in ihren Grundsubstanzen nicht ausreichend ist. Jeder einzelne Musiker ist hier auf der Suche nach einer Erklärung für das Grundthema. Eine Reise beginnt. Der Pianoteil in der Mitte hat keine lyrischen Momente, wie wir sie noch später von anderen Musikern hören werden, sondern geht strukturiert, analytisch, ja methodisch auf die Suche. Es werden Cluster gebildet! Aber warum  alles vorhersagen. Selbst entdecken. Der Song ist wie der vorherige und die nun folgende Entdeckungsreise, die kein Abendteuer eingeht. 

Kenny Clarke – Francy Boland Big Band – Wintersong 

Zugegebener Weise nicht die einfachste Komposition. Aber! Derzeit geht es mir darum zu verstehen, wie Jazzmusik eine Geschichte erzählen kann. Hier in Form einer Big Band Formation. Natürlich ausgestattet mir einer Mehrzahl von Variablen, als eine Combo, mit vier Musikern oder fünf Musikern. Die Herausforderung des Hörens besteht darin alle Instrumente zu differenzieren, zu erkennen und wie ein Puzzel zusammenzusetzen. Hier wird trotz allem eine Linie verfolgt. Wer sich im Wohnzimmer überfordert fühlt, sollte einmal im herbstlichen Wald spazieren gehen und sich diese Nummer auf die Ohrmuschel schnallen. Besser mit dem Auto in der Gegend herrum fahren. Einfach mal ausprobieren. Was kostet es schon sich dieses Lied zu besorgen und es im Auto zu hören und „mal“ das Radio auszuschalten?Sie kommen mit einem anderen Gefühl ans Ziel, versprochen! Und das liegt nicht nur an der Geschichte und an der Verfolgung und Aufbohrung der sekundären Melodien in der Komposition, sondern auch an dem Verve und dem Funk, die diese unfassbare Nummer (die übrigens in Köln aufgenommen wurde) beinhaltet. 

Louis Armstrong – That Lucky Old Sun

Jazzmusik hören hat auch etwas mit der amerikanischen Geschichte zu tun. Die Ursprünge basieren auf den Blaskapellen der Jahrhundertwende, auf dem Blues, dem Gospel und dem Bluegrass. Nun kann man zu Armstrong stehen wie man will, wenn man aber gut klingende historische Aufnahmen hören will, um zu verstehen was in 100 Jahren Musikentwicklung passiert ist, sollte man sich mal einige ältere Aufnahmen von Armstrong oder King Oliver anhören. Entspannend ist es ja alle mal zwischen den ganzen vermeidlich komplizierten Sachen! 

Pat Metheny  - Goin’ Ahead 

Pat Metheny wird von Leuten wie uns gerne durch die Mühle gedreht. Sprechen Sie einmal mit einem Jazzkenner Ihres Vertrauens. Er wird ihnen sagen: „Ja, Metheny, dass ist schon ein guter Gitarrist, aber der hat viel Scheiße gemacht“.  Eine definitive Standardantwort.  Letztendlich liegt es daran, dass das nicht klassische Jazzklänge sind, was man dort hört. Man verbindet die Musik mit Teetrinken, mit einer alten Freundin, mit verträumten Jugendgedanken. Niemand will das zugeben. Aber wenn die Gardinen zugezogen sind, holen dass die härtesten Jazzpuristen raus und weinen. Letztendlich auch nachvollziehbar, schließlich spielt Metheny hier eine höchst famose Melodie. Nur, er holt sie nicht kompliziert ab. Nicht Musiker und trotzdem  Jazzfans denken, dass das nur gespielt ist, aber nach dem zehnten Mal hören, werden  auch Anfänger zugeben, dass Metheny ein unaufgeregter Lyriker ist. Romantik ist ein schwieriges Wort. Altmodisch und so weiter. So kompliziert ist das alles, wenn man Jazzmusik hört und sie/wir meinen zu verstehen?! ... und alle bauen sich ein eigenes Universum und meinen den heiligen Gral gefunden zu haben, so einfach ist es nun mal nicht... 

Stan Getz – Autum Leaves 

Jazzmusik hören hat viel mit Selbstdarstellung zu tun! Keiner der deutschen Jazzfans (ich kenne keine ausländischen) wird das zugeben. Aber es gibt viele Menschen die Jazzmusik hören um sich damit von der Masse abzuheben. Achten sie mal darauf! Viele Angeber! Es sind die Leute, die keine andere Musik zu hause stehen haben. Wenn sie aber alleine sind, holen sie die Sting, Phil Collins und Eric Clapton Scheiben raus. Also, traue niemanden der NUR Jazz hört. Wollen sie aber mitreden, dann sprechen sie über diese famose Aufnahme des Jazzstandards „Autum Leaves“. Ein Klassiker! Getz ist einer der sprechensten Saxophonisten aller Zeiten. Und genau das kann man hier verfolgen. 

Sonny Rollins – Why Don’t I 

Bis hier hin haben wir zwei Sachen gelernt! Jazz erzählt eine Geschichte analytisch aufbauend auf der Melodie und Jazzmusik hören hat etwas mit Selbstdarstellung zu tun! Die letzte These sollten Sie bei dieser beswingten und wundervollen Nummer berücksichtigen, wenn Sie nicht gerade mit Ihrem Geliebten oder Ihrer Geliebten tanzen bzw. das Haus rocken. Wenn Sie sich über Jazzmusik unterhalten wollen und keine Ahnung haben, aber trotzdem  auf Prof. Meier treffen, der alles weiß, erwähnen sie wenigstens, dass sie die Aufnahme der Rudy Van Gelder Edition gehört haben. Somit können Sie diese Frage, die sowieso kommen wird, im Keim ersticken. Toll, natürlich wenn Sie dann noch Art Blakey, Horace Silver und Thelonious Monk kennen: 

Thelonious Monk – Ruby Dear 

Meine Damen und Herren, Thelonious Monk ist das größte Genie der Jazzmusik gewesen. Sein Leben war "Atem beraubend" und seine Improvisationen und sein Klavierspiel ist nicht von dieser Welt. Wenn man Jazzmusik hören möchte kommt man hier nicht vorbei. Und übrigens Herr Brönner, Herr Schneider aus Mühlheim a. R., hat mehr für den deutschen Jazz getan, als Sie jemals zuträumen wagen. Warum ich das Sage? Weil Monk ein Scherzkeks war. Immer für einen guten Witz in seinem Spiel zu haben. Diese Entdeckung ist nicht exklusiv, macht  aber Spass, wenn man das versteht und soweit ist. 

Art Blakey & The Jazz Messengers – Moonriver 

Glauben Sie mir, dass ist die erste Melodie, die ich als sechs jähriger kleiner Mensch pfeifen konnte. Und ich liebe das Theme noch immer. Aber geht es Ihnen nicht auch so? ...es wird irgendwann langweilig!? Sorry, Henry, aber ich kann auch nicht immer Burt hören! Zumindest wenn es aus dem Kontext des Filmes gerissen wird. Nun könnte man einen Beat drunter legen, es mit Samba-, HipHop-, Rockgrooves kombinieren. Verschiedene Menschen könnten es singen. Aber wäre es dann so aufregend wie Art Blakeys Version? ...die verdammt noch eins, einen ganzen Club zum Ausrasten bringen kann. So geht es nur hier, so geht es nur in der Improvisation, in der Fortführung, in der Ausbaustufe, zur Basis. Auf der Entdeckungsreise, durch Melodien, Harmonien und Takten. 

Horace Silver –  Song for my Father 

Eine echte Konsens-Jazznummer. Hier trifft Tradition und Moderne aufeinander. Alle können sich hiermit arrangieren. Das liegt an der unübertrefflichen Leichtigkeit des Seins in Silvers Pianospiel. Auch wenn  Sie keine Ahnung von unterschiedlichen Klavierspielern haben, so sollten Sie mal das hier und vielleicht das Spiel eines in der nahe Zukunft auf Sie kommenden Pianospielers achten. Man meint Welten unterscheiden zu können. Und ist das nicht schön und faszinierend, wenn man solche Entdeckungen macht? ...auch wenn man nicht Musik studiert hat.

Chick Corea – You are Everything 

Ich glaube wer jetzt noch dabei ist, hat eine Menge gelernt. Wer dann auch noch die Tracks gehört hat und sich angesprochen fühlt, sollte bei mir sein. Aber darum geht es nicht. Es geht um die eigne Fortführung der Möglichkeiten! Jazz ist nicht konservativ, war es nie und es gibt auch keine Zugangsschwierigkeiten.  Das Problem der letzten 20 Jahre war, dass die Plattenfirmen versucht haben einem Nicht-Jazzpublikum vorzugaukeln, dass der Zugang nur über weichgespülte Lounge- oder Hausfrauen Jazzcompilation gelingt. Gelinde gesagt, dass ist Quatsch. Wer Lust hat etwas neues zu entdecken und die Vielfalt der musikalischen und damit verbundenen Emotionen kennen zulernen will, sollte damit anfangen. Ich habe als 14-jähriger diese Nummer gehört. Damals mochte ich zeitgleich „Depeche Mode“ und „The Cure“! Trotzdem ist es mir gelungen, eine Tür für solche großartige Musik offen zu lassen. Heute hat jeder die Möglichkeit sich in wenigen Sekunden, diese Musik zuzulegen. Nur es gibt keine Anstöße und keinen Anlass dafür. Scharlatane wie Till Brönner versuchen Sie über - runter geschraubte Kompositionen- zu ködern. Gehen Sie nicht darauf ein! Fangen Sie direkt mit den guten Sachen an. Chick Corea wird schwieriger  und auch unerträglicher.  Aber er ist einer der großen letzten Modernisierer der Jazzmusik und ihn zu entdecken macht Spaß. Er ist ein Genie!

Wir müssen anfangen alte Gewohnheiten aufzubrechen. Auch Menschen wie Deckard und ich, die seit über 20 Jahren intensiv Musik hören! Wir müssen uns auf die Tradition berufen und versuchen das Gelernte weiterzugeben. Mein Gott, dass hört sich nicht nur neunmalklug und missionarisch an, sondern ist es auch! Denn von wem  als von uns Nerds, die sich seit so langer Zeit mit Musik auf allen Kanälen und Medien beschäftigen, sollen die Leute da draußen noch was über die Schönheit dieser Kunst lernen? Weit aus dem Fester gelegt, Lomax,  aber!!! ...ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein MixTape im weitesten Sinne erstellt, ohne auf die Dramaturgie zu achten. Die Selbstdarstellung rückt in den Hintergrund, die eigenen Leiden und die eigene Selbstverzweiflung rückt in den Hintergrund. Wir haben die Aufgabe, die alten Werte der Musik weiterzuvermitteln.  Die Werte, die, die Musik auch uns gegeben hat: Leidenschaft, Emotionen, Bestätigung, Hilfe und Freude! Und das muss zurück zu allen Menschen! Unabhängig von der Situation der Plattenfirmen, der Musikindustrie, der Situation der Künstler und der fehlenden Zeit. Musik ist der Transporter in eine angenehme Welt, in eine bessere! Egal, ob wir nun Geld damit verdienen, uns selbst darstellen, sie sammeln oder konsumieren. Wir brauchen sie und das ist der Grund, warum wir das hier auch FÜR EUCH/Sie machen! Langsam wird mir das bewusst und googlen Sie mal nach Alan Lomax. Der Typ war tatsächlich ein Visionär mit einer Aufgabe!!!!

Musik ist Trumpf! 

Alan Lomax

  

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