Mercedes Dance – Ein offener Brief an Tillmann Prüfer, den „Stilredakteur“ des Zeit-Magazins und Kolumnist für Neon

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  9. Oktober 2009, 08:25  -  #Kommunikation



Sehr geehrter Herr Prüfer,

 

gestern Abend hatte ich einen harten Arbeitstag! Als das Tagwerk erledigt war, habe ich mir eine Flasche Bier genommen, mir eine Zigarette angezündet und mich auf mein Sofa gesetzt. Entscheidend für Sie: Vorher bin ich an mein Plattenregal gegangen und habe mir eine Schallplatte ausgesucht. Entschieden habe ich mich für die 1993 erschienen Yo La Tengo Platte „Painful“.

 

Mit meinem Bier und der Zigarette habe ich dann 50 Minuten angenehmen Krach und wundervolle Melodien gehört. Ich habe den Tag Revue passieren lassen und darüber nachgedacht, was es für eine große Kunst es ist, das künstlerische, musikalische hohe Level von Yo La Tengo, so viele Jahre aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig auch darüber, wie angenehm es ist älter zu werden, sich weiterzuentwickeln und trotzdem nicht die Ideale der Vergangenheit zu vergessen.

 

Danach bin ich ins Bett gegangen und habe Ihren Artikel „Plattenspieler“ in der aktuellen Ausgabe der NEON gelesen. Sie beschreiben dort folgendes:

 

Da sie selbst nicht in der Lage sind Musik aufzulegen, haben Sie für eine Party einen Freund eingeladen der mit zwei Postkisten voller Platten kam um Ihnen zu helfen. Nach dem Sie festgestellt haben, dass sie keinen einzigen Plattenspieler besitzen, wurde das „Abspielgerät“ kurzer Hand bei den Nachbarn geliehen. Nach Ihrer Feststellung hat ja schließlich jeder Mensch einen Technics SL-1200 MK2 in seinem Wohnzimmer stehen.

 

Die Party lief offensichtlich gut und anschließend denken Sie über folgendes nach:

 

„Ich hätte gerne einen Plattenspieler und noch lieber hätte ich eine Plattensammlung. Menschen mit einer Plattensammlung müssen nicht viele Worte verlieren, sie können ihrer Musik die Konversation überlassen. Musik, die sie einmal aus den Stapelfächern klebriger Recordshops gefischt haben, um die sie auf Flohmärkten gefeilscht haben, die ihnen Freunde geschenkt haben oder manchmal Freundinnen. Alles, was ihnen mal wichtig war, knistert in den Rillen des Vinyls. Die Sache ist: Ich könnte mir jederzeit einen Plattenspieler kaufen . aber keine Musikbiographie. Ich zähle Musik nicht in der Anzahl von Alben, die besitze, sondern in Gigabyte auf meiner Festplatte. Wenn ich zu Hause eine Playlist abspiele, erzählt sie so viel über mich, wie die „Mood Music“ in einem American-Apparel-Shop.

 

Einige Tage nach der Party, die Technics-Dinger waren noch nicht abgeräumt, wurschtelte ich mich durch das Angebot eines Berliner Plattenladens. An einen solchen hatte ich einmal meine Platten verscherbelt, die als Jugendlicher angesammelt hatte. Ich spürte, es ist zu spät, sie zurückzuholen. Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht einfach noch einmal anfangen. Schallplatten sammeln gehört dazu. Hätte ich einen Plattenspieler in der Wohnung, würde er mich jeden Tag daran erinnern, dass ich verlernt habe, Musik zu hören. Und dass ich es nicht mehr nachholen kann, weil ich alt werde. Verdammt. Das muss ich mir nicht sagen lassen, jedenfalls nicht von so einem dahergelaufenen Plattenspieler. Wer bin ich denn?“

 

Als ich die Kolumne zu ende gelesen hatte, hatte ich eine schlaflose Nacht!

 

Die Gründe!

 

ZORN

 

Lieber Herr Prüfer, haben Sie schon einmal was von dem Thema „Sozialer Reichtum“ gehört? Der Autor Norbert Bolz plädiert dabei für einen neuen Geist im Kapitalismus. Es geht für die Menschen immer mehr darum, sich zu verknüpfen und im Spiel zu bleiben. Norbert Bolz plädiert für die Hinwendung zur Kraft jedes Einzelnen, zu den Stärken jedes Mensch.

 

Ehrlich gesagt, würde ich Ihnen den Artikel am liebsten um die Ohren hauen. Allerdings würde, das, gegen unser blogger Credo verstoßen. Letztendlich auch gegen unsere ethischen und moralischen Werte. Daher möchte ich mich im weiteren Verlauf auf die Kraft jedes Einzelnen konzentrieren.

 

Norbert Bolz Signal zum Aufbruch und zum neuen Denken ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Ein Signal zum Aufbruch und für ein neues Denken. Hoffnungslosigkeit verkauft sich zwar gut, aber klar ist auch: „Wir sollten zufrieden sein mit dem, was gut genug ist, statt mit absurden Aufwand zu versuchen ein besserer Mensch zu werden“.

 

Um Ihnen mal (noch) etwas positives mitzuteilen: Was Sie ehrt ist die selbst Reflektion. Was Ihre Kolumne ärgerlich macht, ist die erstaunliche inhaltliche Leere. Sie versuchen Musik als Transportmittel für ein Statussymbol zu missbrauchen. Offensichtlich hat es Ihnen die Schlichtheit und das technische Vermögen des Plattenabspielgerät SL-1200 MK 2 angetan. Dabei vergessen sie allerdings einen wesentlich Faktor (das ist der, der mich zornig macht): Musik erklärt sich erstmal über die Musik, über die Idee des Musikers und über das künstlerische, handwerkliche und visionäre Talent eines Musikers. Dann über die Persönlichkeit des Musikers und dann (sehr wesentliche) über das Gefühl, welches beim Hörer ausgelöst wird. Völlig unerheblich, ob die Musik vom Band, von CD, aus dem Radio, aus dem Konzertsaal aus dem Computer, von einem alten Telefunken-Plattenspieler oder halt vom Technics SL-1200 MK 2 kommt. In erster Linie zählt die Musik.

 

Offensichtlich ist Ihnen als „Stilredakteuer“, aber,  „Der Porsche unter den Plattenspielern“ wichtiger als die Kunst. Nach zu lesen auch in einem weiteren Artikel von Ihnen unter: http://www.zeit.de/2009/34/Stil-34

 

MITLEID

 

Ich wage es ja gar nicht, weiter zu googeln oder weitere Kolumnen von Ihnen zu lesen. Wahrscheinlich treffe ich auf weitere Oberflächlichkeiten. Vielleicht haben Sie auch bereits einen Verein gegründet: Freunde des Technics SL-1200 MK 2 und eine Internetseite gibt es wahrscheinlich auch schon: www.wo-steht-euer-technics-im-durchgestylten-wohnzimmer.de !?

 

Kürzlich habe ich ein Hi-Fi-Magazin durchgeblättert. Dort gab es eine Rubrik mit der Überschrift „Hi-End-Freaks in ihrem Wohnzimmer“. Zu sehen gab es einige privat eingeschickte Bilder von Konsum-Materialisten die mindestens € 40.000,00 für eine Hi-Fi-Anlage ausgegeben haben. Auf den Bildern sah ich dann Detlev H. (40 Jahre) aus Bad Honnef. Er hatte eine unfassbar schöne Designer Anlage von irgendeinem englischen Hi-End Hersteller in seinem dunklen, holzvertäfeltem Wohnzimmer stehen. Detlev H. sah fürchterlich aus. Er hatte Hausschuhe an, ein schlimmes Hemd und eine Kassengestellbrille. Vom Typ her: Mann wohnt noch bei den Eltern. Am Ende der Rubrik gab er seine zwei Lieblings-CD’s an: Phil Collins „Face Value“ und Paul Potts, keine Ahnung wie die Scheibe heißt.

 

Nun will ich Ihnen diese Stillosigkeit nicht unterstellen, dennoch vermute ich, dass Sie vom Habitus ein Gleichgewicht darstellen. Natürlich sind Sie als Stilredakteuer post-materiell, avantgardistisch und experimentell geprägt. Aber ich bin überzeugt davon, dass Ihr Aszendent der bürgerlichen Mitte entspringt. Denn wie sonst könnte man einen Plattenspieler mit einem Auto vergleichen und wie sonst könnte man auf die Idee kommen „sein Wohnzimmer mit einem coolen CLUB-Inventar aufzumöbeln, das er definitiv nie benützen wird“.

 

Klar, Sie haben ja festgestellt, dass Sie das nicht nachholen können. Und dabei habe ich Mitleid und möchte Sie gerne verbal unterstützen:

 

Es ist nie zu spät, Herr Prüfer! Kaufen Sie sich endlich einen Plattenspieler, meinetwegen auch den Technics SL-1200 MK 2 (der im übrigen tatsächlich richtig gut ist), investieren Sie Geld in Ihre alten Lieblingsscheiben. Weinen Sie, tanzen Sie, freuen Sie sich, spielen Sie Ihren Freunden die neusten Platten vor und das was Ihnen wichtig ist. Füllen Sie die inhaltliche Leere mit guter Musik und teilen Sie es allen mit. Ihr Leben wird sich besser anfühlen.

 

VERSTÄNDNISLOSIGKEIT

 

Das Sie, dass nicht machen werden, kann ich nicht nachvollziehen! Woher ich das weiß?! Nun es entspricht nicht Ihrem Naturell. Sie sind ein oberflächlicher Reporter, der oberflächliche Dinge beschreibt. Bitte entschuldigen Sie diese persönliche Beleidigung, die nicht so gemeint ist! Gemeint ist die Thematik, mit der Sie sich beschäftigt, die aber letztendlich zur Oberflächlichkeit führt. Zur inhaltsleere, zum fehlenden Kontext, zur fehlenden Leidenschaft. Aus meiner Sicht, tragen Kolumnen wie die Ihre und Meinungen die Sie ja öffentlich Publizieren dazu bei, dass diese Gesellschaft zunehmend verdummt. Und das auf sehr hohem Niveau. Natürlich nur zu einem geringen Anteil, aber der Beitrag ist da.

 

Machen Sie sich bewusst, dass Sie ein Meinungsmacher sind. Wie viele Ihrer Leser, werden noch mehr Geld in Dinge stecken, die keiner braucht, wenn sie nicht mit Inhalten gefüllt werden können!?  

 

HOFFNUNG

 

Die einzige Hoffnung die mir bleibt, ist die Hoffnung auf eine Kulturrevolution. Zu der Sie mit Ihren Artikeln auch in kleinen Teilen beitragen. Denn auch den unerträgliche Kapitalismus, den Sie hier zwischen den Zeilen aktivieren, trägt zum Kulturbruch und zur gesellschaftlichen Zersplitterung bei. Bitte sehen Sie das nicht als politischen Vorwurf, sondern als soziale Kritik. Wenn nicht, machen Sie sich wenigsten Gedanken über Ihre Inhaltslosigkeit. Ich verstehe, dass Sie nun mal kein künstlerischer Intellektueller sind. Ich verstehe auch, dass Stil, Mode, Trends und Design (zu recht) einen gewichtigen künstlerischen Anteil an unserem Leben haben und dass man auch diese künstlerischen Attribute respektvoll betrachten und reflektieren sollte.

 

Nur wenn Sie Inhalte und den Dialog mit einem Plattenspieler suchen, ergo bei einem Körper, der kein Gehirn und kein Herz, ergo keine guten Platten aufliegen hat, werden Sie auch keine Antworten finden!

 

Um Ihnen eine Antwort auf Ihre Frage „Wer bin ich denn?“ zu geben:

 

Denken Sie bitte nicht, dass Sie zu alt sind, um das Musik hören nachzuholen. Geben Sie nicht auf. Wer Sie sind, können Sie sich dann in der Folge beantworten.

 

Wenn Sie übrigens verlernt haben Musik zu hören, orientieren Sie sich an unsere Einträge unter den Kategorien Musik, Pop-Musik, Jazz etc.

 

Das könnte Ihnen Hoffnung geben!

 

Mit freundlichen Grüßen

Alan Lomax  

 

P.S.: Der Eintrag wurde von mir am 09.10.2009 an die Emailadresse von Tillmann Prüfer neindanke@neon.de gesendet. Über mögliche Antworten und Stellungnahmen werde ich dann informieren…

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