Mainstream vs. Guter Geschmack oder warum in Hannover der große Musikstreit ausgebrochen ist ?

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  25. März 2011, 19:53  -  #Populäre Musik

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Aus dem letzten Kommentar von Rick Deckard zur Echo Verleihung:

 

Die Musikkultur gerade im Fernsehen und v.a. im öffentlich-rechtlichen Bereich ist eine einzige Katastrophe, wenn man überlegt, wie wenig gute, geschweige denn überhaupt Musiksendungen es gibt. Die Möglichkeiten Musik aus allen Sparten abseits der Charts einem grossen Publikum zu präsentieren sind besser (auch technisch) als jemals zuvor!

 

Ich träume davon zur Prime Time mal eine gut recherchierte Sendung über Jazz, Klassik oder Filmmusik zu sehen mit guten Konzerten und Interviews ... .

 

Verehrter Freund,

 

folgende Posse aus unserer gemeinsamen Heimatstadt (die aber eine gemeine Allgemeingültigkeit hat), möchte ich Ihnen kurz schildern:

In Hannover gibt es einen kommerziell unabhängigen Bürgerfunksender der „LeineHertz“ heißt. Ein Bürgerfunksender gehört zum nichtkommerziellen Lokalfunk. Die zentralen Aufgaben sind die lokale und regionale Berichterstattung, interessierten Bürgern und Bürgerinnen den Zugang zum Rundfunk zu gewähren und Medienkompetenz zu vermitteln (wiki).

 

Um zu verstehen, wie absurd die kommenden Überlegungen sind, muss man noch wissen, dass die Betreiber des Senders mit dem folgendem Ziel an den Start gegangen sind: „Das Musikprogramm wird sich in besonderer Weise von den bestehenden niedersächsischen Radiosendern abheben.“

 

Und in der Tat anfangs war dies tatsächlich der Fall. Ist man mit dem Auto in die Region Hannover gefahren und stellte sein Radio auf 106,5 MHz gingen einem Musikinteressierten Menschen das Herz auf. So konnte man z. B. an einem normalen Wochentag, zu einer normalen Tageszeit hintereinander The Charlatans, Jens Lekman und Polyphonic Spree hören. Ein kurzer Wortbeitrag und es ging weiter mit Burt Bacharach, The La’s oder den Pale Saints. Einfach unglaublich!

 

„Doch Schluss mit der Hottentotten Musik“,  mag sich Geschäftsführer Markus Mayer gedacht haben. „Eine neue Klangfarbe müssen wir haben und eine musikalische Anpassung an den Mainstream muss her“. Weiter wahrscheinlich „haut die ollen Platten raus, schiebt die heißen Scheiben rein“. Damit sind Protagonisten wie Phil Collins, Saga und Queen gemeint. Das geht, mag der eine sagen. Dann halt Grönemeyer, Lena und Pur. Wieder mal alles Geschmacksache!? 

Aber darum geht es in dieser lokal entfachten Diskussion nicht. Bei dieser Posse geht es um ein grundlegendes Problem in diesem Land! Um die Tatsache, dass alles und insbesondere der Musikgeschmack konfektioniert für die Menschen serviert wird!

 

Denn die Idee das Musikprogramm zu ändern, wurde von einer fragwürdigen Hörerumfrage eingeleitet. Bei dieser „Höreranalyse“ sind 324 Teilnehmer befragt worden. Herausgekommen ist, dass 86 Prozent mit der Musikauswahl zufrieden sind. Dieser für wahr unterrepräsentative Wert wurde von den Betreibern in Frage gestellt und eine zweite Befragung wurde bei Nichthörern durchgeführt. Diese Ergebnisse sind bisher nicht veröffentlich worden. Aber das Fazit, das Ergebnis: Der alternative Mix ist bei den 91 Teilnehmer der Befragung durchgefallen.

 

Natürlich ein guter Grund ein komplett neues Musikkonzept anzugehen! Nein, natürlich nicht! Jeder der sich schon einmal mit dem Thema Analyse beschäftigt hat oder auch nur einen Deut von Wahrscheinlichkeiten und Statistiken versteht, muss erst einmal hinterfragen, wie sich denn dieses Panel der Befragten zusammengesetzt hat. Egal, ob es nun die 324 Teilnehmer oder die obskuren 91 Teilnehmer sind. Und auch erst dann könnte man einen Versuch starten eine Profilierung bzw. eine Langzeitstudie vorzutragen.

 

Es geht hier bei um Musikgeschmack. Also um etwas, dass nicht unbedingt mit soziodemografischen Attributen bei Menschen abbildbar ist. Menschen leben in unterschiedlichen Lebensphasen mit unterschiedlichen Werten, Zielen und Grundorientierungen. Somit wäre es wichtig diese Aufschlüsselung bei einer Hörerbefragung zu berücksichtigen und ein professionelles Feldinstitut zu beauftragen. Nicht zu letzt müssten aber zumindest die Ergebnisse offen gelegt werden und die Struktur der Befragten. Das alles zweifeln, die Guten bei dieser Diskussion an. Und das sind die ehrenamtlichen Musikredakteure. Nachzulesen hier: http://www.hannover-entdecken.de/content/view/17384/1/

Warum also die ganze Aufregung hier in Betracht gezogen wird, von mir!? Ganz einfach und mal krass formuliert. Hier geht es im kleinen, um etwas ganz großes. Um den Kampf einer Bastion. Ich drücke es mal so aus, um klar zu machen, wie hoch ich Diskussion hängen würde: Es geht nämlich nicht um Musikgeschmack oder guten und schlechte Menschen, sondern um eine grundlegende Tatsache. Die, die Sie auch in Ihrem Kommentar anprangern. Es geht um das Diktat der Musikindustrie, die uns fast Nazimässig tagtäglich um die Ohren gehauen wird, gegen die kulturelle Vielfalt, die es in Wirklichkeit gibt und die sich auch viele Menschen wünschen! 

Das Naziwort ist nicht schön, trifft die Dramatik aber voll und ganz. Klar, es gibt Alternativen im Radio. So spendet z. B. Radio Bremen mit dem Funkhaus Europa ein wirkliche Alternative zum Einerlei und in Köln haben wir einen Sender wie Köln Campus. Serienstar Ewing wusste so z. B. zu berichten, dass er kürzlich auf dem Weg zur Arbeit am frühen Morgen mit einem Song der niemals im deutschen Radio gespielten Union Carbide Productions überrascht wurde.   

Im Fernsehen finden Musiksendungen nur spät und in Spartensendern statt. 

Was ich wirklich nicht glaube, ist das die Menschen in Deutschland, wirklich so dumm sind, wie sie von den Medien gemacht werden! Es ist nur so, dass keiner um seine Rechte kämpft und offensichtlich eine geheime Macht aus Marktforschung, Medienforschung um die Zuhörer/-seherschaft permanent falsche Zahlen veröffentlicht. Diese Macht hinterfragt niemand, da sie von ein paar Instituten gesteuert wird, die seit Jahrzehnten Zahlen liefern. Doch wer überprüft eigentlich, ob das stimmt?

Ein Grund für eine Kulturrevolution! Beobachten wir mal die Sache in Hannover, vielleicht bringt sie einen kleinen Stein ins Rollen. Es wäre uns allen zu wünschen....

Alan Lomax

 

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