Ausgeträumt? Eine kritische Betrachtung des zeitgenössischen Kinos.

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  13. April 2012, 14:55  -  #Filme

Lawrence Flame

Die Traumfabrik

Ich werde nicht müde es zu zitieren, denn dieses Zitat ist der Kern des Kinos schlechthin:

"Wir handeln mit Träumen."

Sir David Lean.

Machen wir uns nichts vor. Hollywood und alle weiteren Unternehmen, die mit der Herstellung von Filmen beschäftigt sind, sind in erster Linie eines: eine Industrie. Eine Fabrik, die nur damit beschäftigt ist ein Produkt auf den Markt zu bringen, welches gekauft werden soll. Kaufen tut der Kunde nur dann, wenn es ihm aus irgendeinem Grunde gefällt, oder aber es ihm reizvoll verpackt wird. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Betrachtet man jedoch das zeitgenössische Kino, seine Entwicklung seit der Jahrtausendwende, so wird der kritische Käufer, der kritische Kinogänger und Cineast sich fragen, was er da eigentlich kauft und v.a. was mit dem Kino passiert?

Kino ist immer Ausdruck des Zeitgeist, der aktuellen politischen und kulturellen Situation, stets auch ein Abbild der Gesellschaft und ihrer Wandlung. Stellt sich die Frage, welche Träume die Fabrik überhaupt verkaufen soll, wenn bereits alle Träume erfüllt sind. Betrachten wir die Gesellschaft und ihre heutigen Errungenschaften, v.a. die technischen: alles ist überall und zu jedem Zeitpunkt erhältlich. Das Internet hat unsere Kommunikation, unsere Denkweise und unser Verhalten entscheidend geprägt und verändert. Es scheint, dass das Hauptanliegen der heutigen Gesellschaft Konsum und Hedonismus sind.

Keine kritischen Gedanken, keine wahrhaftige Auseinandersetzung mit Kunst, Politik und Kultur, keine Phantasien, keine Utopien, keine Illusionen. Diese Aussage kann en bloc einer kritischen Auseinandersetzung nicht Stand halten, da zu pauschal, ist aber eine Empfindung und Emotionen haben die gleiche Berechtigung wie die Ratio.

Was sollen die Drehbuchautoren der Traumfabrik auch für Drehbücher schreiben, wenn sie verunsichert sind, was das Publikum eigentlich will (weil es schon alles hat)? Welche Träume soll es dem Publikum verkaufen, v.a. dem Zielpublikum zwischen 12 und 35 Jahren? Ein Klick auf Youtube und alles ist erhältlich. Die Menschen verwirklichen ihre Träume selbst und stellen sie ins Netz! Wie soll man dagegen angehen?

Ein Handel kann ja nur dann gelingen, wenn man jemandem etwas verkauft was er nicht hat und was er begehrt. Träume werden Menschen immer haben, denn wir gehen ja ins Kino um das zu bekommen, was wir im Alltag nicht erhalten: Larger Than Life!

Sie werden sich fragen: Wovon spricht er eigentlich die ganze Zeit?

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Das zeitgenössische Kino

Ist alles nicht so schlimm, das Glas ist halbvoll und nicht halbleer? Sehen wir einmal genauer hin. Das Kino der Neuzeit ist ein einziges Konglomerat aus Wiederholungen, Franchise und dessen Wiederholungen und technischem Spektakel (v.a. der erneute 3-D Höhepunkt). George Lucas fällt nichts mehr ein, ausser seine Star Wars Saga wieder und wieder in diversen Editionen auf den Markt zu bringen, jetzt in 3D. Superman und Batman und diverse andere Superhelden wie Spiderman werden wiederbelebt mit fadenscheinigen Argumenten wie Neuinterpretation, Prequels und Sequels. Reicht der Richard Donner Film nicht oder die Tim Burton Interpretationen der Fledermaus, bzw. die Sam Raimi Filme? 

Alle Harry Potter Bücher sind verfilmt, dazu immer wieder Aufgüsse der Piraten der Karibik Reihe, Shrek 1 bis x, Ice Age 1 -x usw. und so fort. Die mangelnde Fantasie geht sogar soweit, dass Spielzeugfiguren verfilmt werden und ist der Film erfolgreich, so folgt ein Aufguss nach dem anderen (Transformers, Toy Story etc.).

Fortsetzungen sind keine Erfindung der Neuzeit und hat es in Hollywood immer schon gegeben und jede Generation hat die Berechtigung es neu aufgetischt zu bekommen. Nur: wo bleiben die Innovationen? Aus den hier genannten hat einzig Christopher Nolan neue Akzente gesetzt.

Die Traumfabrik ist so verunsichert, dass sich an jedem Strohhalm geklammert wird, der auch nur halbwegs aus dem Sumpf herausragt. Die Folgen: Sherlock Holmes 2, Star Trek 2, Stieg Larsen auf amerikanisch, Neuverfilmung von Judge Dredd, Neuverfilmung Total Recall, Men in Black 3, Breaking Dawn 3, The Expendables 2, The Bourne Legacy, Fluch der Karibik 5, Der Hobbit, Man Of Steel (Superman), Neuverfilmung Conan der Barbar, Die Hard 5 (!), Ghostbusters 3, Neuverfilmung Westworld, Neuverfilmung Mad Max, Fortsetzung Mission Impossible, Neuverfilmung Straw Dogs, Filme über alle Helden des Marvel Universums (und das mehr schlecht als recht). Der einzige, der aus diesem langweiligen und uninspiriertem Einheitsbrei herausragt ist der Geheimagent im Dienste Ihrer Majestät: James Bond. Er hat es als einziger geschafft sich immer wieder neu zu erfinden.

Die Liste liesse sich unendlich fortsetzen.

Der Mangel an Kreativität führt sogar dazu, dass das Leben einer britischen Politikerin als massentaugliches Biopic ins Kino gebracht wird. Allen Ernstes: wollen Sie (unabhängig von ihrer politischen Gesinnung) Episoden aus Margret Thatchers Leben im Kino sehen??? Nicht nur die auf Oscar-Kurs getrimmten Biopics über stotternde Könige langweilen, es geht noch "besser": jetzt fängt die Traumfabrik an das Leben der Hollywood-Legenden selbst ins Kino zu bringen: Da erzählt einer über eine Woche mit Marilyn (Monroe) und es wird noch skurriler: Sacha Gervais bringt einen Film ins Kino mit dem Titel "Alfred Hitchcock and the Making of Psycho". Kein Scherz: Scarlett Johansson spielt Janet Leigh, James D'Arcy Anthony Perkins und Anthony Hopkins den Master Of Suspense.

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Geschichten

Machen wir uns weiter nichts vor: nur weil wir technische Errungenschaften wie Fernsehen, Autos und Computer haben, so sind wir in der Evolution nicht wirklich weiter gekommen. Was heisst das in Bezug auf das Kino? Wir sitzen immer noch am Lagerfeuer und wollen gebannt Geschichten lauschen. Geschichten mit einem spannenden Anfang, einem mitreissenden Mittelteil und einem wie auch immer gesponnenen Ende. Deswegen gehen wir doch in das Kino oder das Theater. Nun gibt es Menschen die verfechten die Meinung das Kino bestehe (da ein optisches Medium) auch aus Effekten, Bildern und Schauwerten und die hätten eine ebensolche Berechtigung wie die Handlung. Nichts dagegen einzuwenden aber es ist doch indiskutabel, dass die Handlung das Gerüst, der Kern eines jeden Filmes, einer Geschichte ist!

Doch wo sind diese Geschichten im heutigen Kino? Ich bin kein Nostalgiker und Anhänger der "Früher war alles besser"-Philosophie. Jede Form einer technischen Innovation hat ihre Berechtigung, auch im Kino. Wenn ich mir aber James Cameron's Avatar ansehe überkommt mich das Schaudern. Ein fremder Planet mit 2m grossen blauen Riesen und Rehaugen versus Soldaten, die nach Rohstoffen suchen? Ist das alles, was die Traumfabrik zu bieten hat?

Jetzt muss ich nostalgisch werden. Man stelle sich vor ein Stanley Kubrick oder ein Alfred Hitchcock hätten die technischen Möglichkeiten von heute ... . Sehen Sie! Sie schmunzeln jetzt wahrscheinlich. Das sind zwei Ausnahmeregisseure, das ist mir bewusst. Aber können sie sich vorstellen welchen Schrecken uns Hitchcock einjagen würde und in welche Welten wir mit Kubrick entflohen wären?

Eine Geschichte im Kino muss auch erzählt werden können und da mangelt es meines Erachtens gewaltig im Kino der Neuzeit. Schnell verdaulich muss es sein, wie ein Hamburger. Keine Themen mehr, keine Inhalte über die es sich nachzudenken lohnt. Wo sind die (kritischen) Reflexionen über unsere Gegenwart und die jüngere Vergangenheit? Oliver Stone dreht nur einen müden Abklatsch seiner selbst mit Wall Street 2, Kathryn Bigelow einen langweiligen Film über eine Spezialeinheit irgendwo im nahen Osten. Erinnern sie sich noch an die Zeit, in der Ausnahmeregisseure das Vietnam-Trauma verarbeiteten: Francis Ford Coppola, Michael Cimino, Oliver Stone, Hal Ashby, Karel Reisz, Stanley Kubrick. Diese Regisseure vermochten es Geschichten mit Inhalten zu verbinden und zwar so, dass sich nicht nur ein intellektuelles Publikum angesprochen fühlte, sondern der Durchschnittsmensch.

Das ist die Kunst!

Die Regisseure aus der Vergangenheit des Kinos (u.a. Billy Wilder, Howard Hawks, John Ford, John Huston, Alan J. Pakula, Sergio Leone, Fred Zinnemann, Sam Peckinpah, Martin Scorsese, Alfred Hitchcock, Stanley Kubrick, Sir David Lean, John Schlesinger, Francois Truffaut u.v.a.m) hatten auch Schauspieler, die eine solche Geschichte tragen und durch ihre Kunst erzählen konnten.

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Schauspieler

Bin ich zu pessimistisch?

Ein Grund für mich ins Kino zu gehen, waren stets die Schauspielerinnen und -spieler. Das ist eine ganz besondere Kunst, die beherrscht Begeisterungsstürme hervorrufen kann (konnte), sowohl im Theater als auch im Kino. Nur wo soll heute Platz sein für diese Künstler im Effekte- und CGI-Kino der Gegenwart? Die Bilder werden ja zunehmend dominiert von fantastischen Welten und Schauwerten, da ist es schwer sich für einen Menschen zu behaupten.

Die Gegner dieser Ansicht werden sagen: doch es gibt sie noch die Schauspieler! Das ist mir bewusst, nur driftet das Arthouse Kino und der Mainstream enorm stark auseinander. Ersteres eine Nische für das Bildungsbürgertum und die Intellektuellen, letzteres mehr und mehr ein Hort für Popcorn, Coca Cola und Nachos. Findet man die Schauspieler, dann nur noch im Kino für einige wenige. Ich spreche aber vom Kino für den Angestellten, Maurer, Bankkaufmann, Tischler, Busfahrer, Rechtsanwalt usw. Da findet man diese so begnadeten Künstler nur noch selten. Oder hat jemand Shame mit Michael Fassbender gesehen bzw. Cheyenne mit Sean Penn? Sehen Sie, das ist das Problem des modernen Kinos.

Ich möchte aber die Schauspieler nicht missen, wenn ich ins Kino gehe und zwar in Filmen, die jeden ansprechen. Gibt es den Mainstream in diesem Sinne überhaupt noch?

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Zurück in die Zukunft

Noch einen Blick auf die enorme Popularität und Boom der Fernsehserien vor einem abschliessenden Wort. Der Erfolg beruht doch nur darauf, dass diese Form der Erzählung das schafft, wozu das zeitgenössische Kino nicht in der Lage ist: Geschichten mit Schauspielern und einer interessanten Handlung auf hohem Niveau zu erzählen. Warum sonst sind sie so erfolgreich? Das wozu das Kino sonst innerhalb 90 bis 120 min in der Lage war, bewältigen Serien jetzt mit 535 oder 1000 min. Aber die Zuschauer wollen genau das sehen: ausgeformte Charaktere, spannende Handlungsstränge, vielschichtige und komplexe Handlungen. Alles das, was derzeit das Kino nicht bietet oder bieten kann.

Ich sehe aber optimistisch in die Zukunft. Es gab in der Geschichte des Kinos immer wieder solche Phasen und die Filmindustrie hat sich immer überlebt. Man denke nur an die Ära des New Hollywood. Ich glaube kaum, dass der Zuschauer, die Menschen auf Dauer diese aktuelle Fadheit und Stumpfsinn goutieren werden. Dafür ist das Publikum doch zu intelligent. Ich weiss nicht, ob das den Machern, den Studios, den grossen Konzernen bewusst ist. Aktuell scheinbar nicht, denn sonst würde die Traumfabrik nicht solche Produkte auf den Markt werfen.

Der Mensch wird weiter träumen und die Träume, die er nicht verwirklichen kann wird er woanders sehen, hören, erzählt bekommen wollen, denn Träume lenken nicht nur ab und unterhalten, sie inspirieren auch.

Die Träume, die wir heute im Kino zu sehen bekommen: sind das wirklich unsere Visionen, unsere Wünsche, unsere Begehrlichkeiten?

Ihr aber seht und sagt: Warum? Ich aber träume und sage: Warum nicht?

George Bernard Shaw

Aus dem Vorführraum,

Rick Deckard

Bildquellen: maxseesmovies.com, guardian.co.uk, soundonsight.org, themarysue.com

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