I’m still Here – Casey Affleck
“Oberflächen sind das einzige Interessante am Kino”, habe ich kürzlich gelesen. Daher sehen echte Filmliebhaber auch nicht gerne solche Undergrounddokumentationen wie den scheinbaren Verfall des Schauspielers Joaquin Phoenix.
Phoenix hat sich vor ein paar Jahren in Kopf gesetzt eine neue Karriere als Hip-Hop-Musiker zu starten. „Absurd, einen Film über mein Leben zu machen, nachdem ich die ganze Zeit versuche, vom Film wegzukommen“, ruft Phoenix irgendwann in die Kamera von Kumpel Affleck, der den Verfall bzw. die neue Karriere von Phoenix -scheinbar zufällig- dokumentiert.
Scheinbar? Natürlich ist der ganze Film gefaket. Allerdings wurde das tatsächlich erst nach 2 Jahren Dreh der Öffentlichkeit preisgegeben! Somit muss man dem Team Phoenix/Affleck schon Respekt zollen, dass so durch zu ziehen. Wir sehen den abgewandten Schauspieler bei seinen verzweifelten Versuchen Musikstar zu werden. Natürlich hat er das Rock’n’Roll-Leben schon personifiziert, bevor er überhaupt eine erste Platte aufgenommen hat. Wir sehen peinliche Zusammenkünfte mit P.Diddy, unangenehme erste Liveauftritte und beschämende Interviews. Der Aufstieg des Rapstars Phoenix ist zeitgleich die Zerstörung des Schauspielers Joaquin Phoenix. Einen talentierten, witzigen, gutaussehenden Hollywoodstar, der mehr will als eben ein Star zu sein.
Der Vergleich zu Sofia Coppolas „Somewhere“ http://www.lomax-deckard.de/article-somewhere-sofia-coppola-75174238.html liegt nahe. Aber! Das hier ist echt und beeindruckend! Diesen Film als Fake-Dokumentation abzutun wäre zu einfach, da er zu viele Fragen hinterlässt und zu bewegend und verstörend ist! Und außerdem ist es Phoenix der zeigt, dass er zu den größeren Schauspielern in Amerika gehört. Viel zu wenig bedacht haben wir den Mann bisher.
„Selbst wenn man Kino und Musik genauso liebt wie Literatur, ist die Wahrscheinlichkeit immer noch größer, im Lauf von vier Wochen auf ein tolles Buch zu stoßen, das man noch nicht kennt, als auf einen tollen Film, den man noch nicht gesehen hat“ Nick Hornby
Derzeit (er-)leben Deckard und ich ja dieses Hornby-Zitat täglich! Wir sind auf der Suche!
Und ganz ehrlich! Bei „I’m still Here“ handelt es sich um einen Film der einen staunend zurücklässt. Zum Einen weil er völlig unkonventionell daher kommt, weil er viel Fragen stellt und das System aufdeckt wie schon lange kein anderer Film mehr und weil die Leistung von Phoenix einfach umwerfend ist.
Dieser Auftritt von Phoenix bei David Letterman ist nicht abgesprochen gewesen. Letterman ist also nicht eingeweiht gewesen. Was der Schauspieler dort in seiner eigenen Rolle abzieht ist grandios. Schliesslich outet er sich selbst und bewusst als absoluter Verlierer, der sein Leben nicht mehr in den Griff bekommt. Wie ein Schlag in die Fresse, dann Letterman's Abschlußsatz: "Danke das Sie nicht hier gewesen sind". Phoenix anschließend in den Katakomben des Studios zu sehen, wie er bis an seine eigenen Grenzen gegangen ist, hinterlässt wirklich unvergessliche Momente!
Der konservative Kinoliebhaber denkt ja wohl, dass man in einer Fake-Dokumentation keine Rolle spielen muss“ „Kann sein, aber dann hat J.P. ein neues Schauspielgenre erfunden“, würde ich zur Antwort geben.
Ich habe lange nicht mehr eine solch körperlich und verstörend echte Darstellung eines Schauspielers gesehen. In Teilen erinnert die Perfomance an Marlon Brandos Walter E. Kurtz in Apocalypse Now, vielleicht ist es aber auch das Gleichnis „Herz der Finsternis“, welches in den letzten Minuten des Filmes aufgerufen wird, dass so beeindruckend ist.
Bitte seinen Sie vorsichtig, wenn Sie sich diesen Streifen ansehen. Es gibt ausgesprochen unangenehme Sequenzen. Affleck und Phoenix gehen an die Grenzen des Ertragbaren. Dieser Film sprengt Grenzen, ist aufregend und neu! Ein absoluter Geheimtipp…
Alan Lomax