Graefekiez - Vier Tage in einer Weltmetropole

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  18. Oktober 2010, 08:39  -  #Kommunikation

Mai2010-1188.JPGEs zog mich wieder in die Hauptstadt. Vom letzten Donnerstag bis Sonntag musste ich den Duft den grossen weiten Welt atmen. Um es in einem Satz zu umschreiben: es war berauschend! Die Anfahrt über den Berliner Ring lässt das Herz bereits höher schlagen, kommt man dann auf die zuführenden Schnellstrassen, fängt es an im Takt der Stadt zu schlagen. Sowieso war ein Wort diese Tage vorherrschend: Bewegung. Ich fuhr in einer grossen Autokolonne die Schnellstrasse entlang, alles floss, alles war in motion. Mein Blick schwenkte nach links und ich konnte die gesamte Weite des alten Flughafens Tempelhof übersehen. Der Anblick war atemberaubend. Auf und um die alten Landebahnen konnte ich hier und da punktförmig Menschen erkennen, die Drachen in den Himmel steigen liessen. Der Blick hatte monumentale Ausmaße und ich war glücklich, denn diese Atmosphäre, die Stimmung konnte ich abgleichen mit demselben Blick in einer anderen Stadt vor sehr sehr langer Zeit. Immer wieder fuhr ich durch Tunnel, Licht flog an meinen Augen vorüber und Frau Navigator lotste mich über die richtige Ausfahrt in den Bezirk, in dem ich die nächsten Tage verbringen wollte: den Graefekiez.

Dieses Viertel zwischen Landwehrkanal, Kottbusser Damm, Hasenheide und Urban Krankenhaus im Ortsteil Kreuzberg stand in den letzten Wochen im Kreuzfeuer. Man erinnere sich an die ganzen sinnlosen Debatten hinsichtlich der Integration. Dieses Mal also nicht Charlottenburg, Mitte oder Prenzlauer Berg, sondern mitten hinein in den Trubel. Ich hatte Parkschwein und fand inmitten der übervollen Strassen einen Platz direkt vor dem Haus, in dem ich eine Dachgeschosswohnung gemietet hatte. Kaum nachdem ich ausgestiegen war hörte ich einen Laut, der nur mir gelten konnte:"Kssssst!" Auf der anderen Strassenseite stand ein bärtiger Mann mit Brille und winkte mir zu. Er erkannte mich sofort und ich ihn als meinen Vermieter. "Ich komme gleich!" sagte er und ging erstmal in die Pinte gegenüber, eine Pinte, wie sie Charles Bukowski gefallen hätte. Ich richtete meinen Blick die Strasse hinunter, beobachtete das Herbstlaub und die Menschen, die an mir vorbeizogen. Im untersten Geschoss war ein türkisches Restaurant. Praktisch!

Der Bartträger kam schnell wieder begrüsste mich und wir gingen hinein. 102 Treppenstufen keuchend bis unter das Dach. Drinnen angekommen zückte ich gleich meine Geldbörse und wollte die Mietschuld begleichen. Er lachte. "Geld, Geld! Immer nur Geld! Komm mit!" Auf knarzenden Holzdielen zeigte er mir die Wohnung und scheiterte an der Präsentation des Fernsehers. Ich hatte einen schönen Blick über das Viertel. Wir regelten dann erst die Formalitäten und er wünschte mir einen schönen Aufenthalt. Die Wohnung war eine Mischung aus alt und neu. In den Regalen im Flur Bücher von Konsalik bis über Atlanten und Readers Digest. Eine kleine offene Küche. Ich war angekommen.

Neugierig zog es mich nach draussen. Der Verkehr floss und an beiden Seiten des Kottbusser Damms. Auf der Strasse ein buntes Bild: ein Geschäft nach dem anderen, Mode aus Paris für sage und schreibe 1 €, es duftete nach Essen aus diversen Döner Buden, überall Einkaufsmärkte, Internet Cafès und Restaurants. Am Landwehrkanal angekommen bog ich nach links atmete tief durch und ging vorbei an schönen alten bürgerlichen Wohnhäusern am Wasser entlang. Traumhaft. Es war kalt und diesig. Menschen der bürgerlichen Mitte zogen an mir vorüber. Der Hunger nagte und ich entschloss mich etwas zu essen. Ich sass am Fenster und beobachtete die Spaziergänger die vorbei gingen: alle Altersklassen, alle Hautfarben, alle Gesellschaftsschichten. Die Schrittfrequenz war enorm. Warum auch nicht. Ich hatte Urlaub, die nicht. Später deckte ich mich in dem Geschäft welches 'Lebensmittel liebt' ein, besorgte mir den 'Tip', legte mich aufs Sofa und lauschte dem Lärm draussen. 

Mai2010-1201.JPGAm nächsten morgen wachte ich früh auf. Die Stadt schlief. Draussen waren die Reinigungsunternehmen unterwegs und säuberten die Strassen. Was sonst ausser ein paar erstklassigen Berliner Schrippen und einem Filterkaffee, dazu den Tagesspiegel. Der Drang hinauszugehen war enorm. Ich fuhr mit der U8 zum "Alex" und anschliessend mit der S Bahn zur Friedrichstrasse. Was für ein Erlebnis! Die Stadt und die Menschen waren in Bewegung, U Bahnen kamen und fuhren, Menschenströme folgten zielgerichtet ihren Weg. Menschen in U Bahnen zu beobachten ist grossartig. Ein kompletter Querschnitt. Manche lesen Bücher, andere sehen hinaus, wiederum andere schreiben SMS. Beamte der Berliner Verkehrsbetriebe winkten ein Pärchen hinaus, er spielte Akkordeon und sang, sie sammelte Geld ein. Es schien keinen zu stören, diese Musik. Ich hatte mir vorgenommen endlich einmal in das Pergamon Museum zu gehen. Es regnete. Der Regen wurde stärker als ich auf der Museumsinsel ankam. Trotz oder gerade wegen des Wetters strömten die Besucher aus allen Richtungen heran. Die Schlange vor der Kasse war hundert Meter lang. Ich gliederte mich ein und prompt konkurrierten Gedanken, wie sie üblich sind wenn Kontrollverlust droht. Aber trotz des Regens und der Wartezeit hielt ich durch und ging hinein.

Mai2010-1202.JPGDer Anblick war überwältigend! Inmitten einer der modernsten Städte der Welt liess ich mich 2000 Jahre zurückfallen und bestaunte mit offenem Mund das Spektakel. Am Eingang bekam ich einen Audio-Guide, setzte mich auf die Treppe und lauschte den Ausführungen. Erst langsam erschlossen sich mir die Historie und die gewaltigen Dimensionen. Schritt für Schritt wurden die Reliefs und Skulpturen, sowie die Geschichte dazu erklärt. Beeindruckend war und ist, wie die Architekten und Künstler solche Kunstwerke vollbrachten, Bauten solcher Präzision und Schönheit und das alles ohne all die modernen Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Unglaublich. Simpel der Hinweis, aber umso grösser der Effekt als der Guide erklärte, dass all das was der Beobachter sieht einst in farbenprächtigen Glanz erstrahlte! Wir sind es gewohnt diese antiken Skulpturen immer in weiss zu sehen, waren sie doch ursprünglich in vielen Farben, Gold und Silber bemalt. Ich bekam eine Gänsehaut. Mit Akribie mussten sie damals die Mosaike auf den Böden hergestellt haben. Die griechische Mythologie ist enorm spannend und hat ihren Einfluss bis in unsere Zeit beibehalten. Ein andere Welt. Der Kontrast zu Berlin war dann beim herausgehen umso gewaltiger, war man sich bewusst, was in den 2000 Jahren alles passiert war, sowohl geschichtlich als auch kulturell.

Draussen zog es mich in die Moderne und ich beschloss zum Potsdamer Platz zu fahren. Die Kinetik dieser grandiosen Stadt ist furios. Ich surfte wieder mit den Bahnen zunächst zum Hauptbahnhof, nur um mich in diesem Koloss zu verlieren. Die Berliner Taxifahrer haben Recht. Der Bahnhof ist eine Katastrophe. Die Beschilderungen sind mies und die ganze Infrastruktur innerhalb des Bahnhofs für einen Aussenstehenden vollkommen unübersichtlich. Nachdem ich verzweifelt versuchte eine Verbindung mit der S- oder U Bahn zu finden und selbst Einheimische es mir nicht erklären konnten fuhr ich die Strecke mit dem Taxi. Der Fahrer fluchte über das Konzept und wünschte sich den alten Bahnhof Zoo herbei.

Mai2010-1214.JPGIch blickte nach oben und Antike und Moderne gaben sich die Hand. Die Überlegung war, ob das was wir jetzt erbauen in 2000 Jahren von Touristen mit Audio-Guides gesehen werden wird mit der gleichen Faszination. Was ist ästhetischer? Um mich herum wie zu erwarten ein gewaltiger Trubel. Ins Filmmuseum? Mein Kopf war noch zu sehr beeindruckt von eben gesehenem, also beschloss ich es für das nächste mal aufzuheben. Aktuell zeigten sie eine Ausstellung über Marlene Dietrich. Was tun? Eureka! Bisher hatte ich die 3 D Technik gemieden, jetzt war es an der Zeit. Ich löste ein Ticket für das IMAX und wurde Zeuge vielleicht der Zukunft des Kinos. 45 atemberaubende Minuten tauchte ich sprichwörtlich ein in die Welt an den Stränden Tahitis und folgte Surfern auf den riesigen Wellen über das Wasser um dann in die Unterwasserwelt abzugleiten. Ich muss gestehen: 3D ist faszinierend. Das Raumgefühl ist komplett aufgehoben. Fische schwammen an mir vorüber, Wasser umspülte mich und ich war Teil der dort gezeigten Welt. In einem Abschnitt hob die Kamera ab in das Weltall um die Meteorologie zu erklären -  die Bilderflut und die plastische Darstellung des Alls führten fast zum Atemstillstand. Faszinierend! Der Break im Kino war genau richtig. Die Technik ist noch nicht ganz ausgereift, denn man sieht im Augenwinkel noch immer rechts und links die schwarze Leinwand. Nichts desto trotz wird diese Technik in naher Zukunft das Kino und das Entertainment revolutionieren. Nur eine Frage der Zeit.

Mit der Linie 200 und 6 angetrunkenen Halbstarken fuhr ich zur Friedrichstrasse zum Kulturkaufhaus Duismann um einen auf PoP Shopping ala Stuckrad-Barre zu machen, nur um masslos enttäuscht zu werden. Die Zeit dieser grossen Geschäfte ist definitiv vorbei. Dort finden sich allenfalls Platten und CD's für den Normalsterblichen und Touristen. Zugegeben: die Auswahl ist riesig, aber die Preise sind es auch. Wer soll und will solche Preise für eine Neuveröffentlichung bezahlen, wenn es diese für fast 50% günstiger auf allen gängigen Download-Plattformen gibt? Bei Saturn in Köln machte ich neulich die gleiche Erfahrung. Sucht man, so sollte man sich wirklich "nur" in Second Hand Läden aufhalten. Das sind Eldorados für Jäger und Sammler. 

Was für ein Tag! Ich ging auf den Balkon und beobachtete unfreiwillig die Menschen um die Fenster am Innenhof. Musste natürlich unweigerlich an 'Rear Window' und Jimmy Stewart denken. Besser als Fernsehen. Ich legte die Füsse hoch und beobachtete die Menschen auf der gegenüberliegenden Strasse. Faszinierend wie schnell sich Parklücken füllen und wie geschickt schnell selbst kleinste Lücken sich füllen. Unten auf der Bank sass ein Penner und spielte laut Gitarre, an der Pinte unten flog eine Bierflasche zu Bruch.

Der Vormittag des Samstag stand ganz im Zeichen der Erholung. Nach Schrippen und Kaffee widmete ich mich dem 'Tip' und war begeistert zu lesen, was alles in dieser Stadt passierte. Ein gewaltiges kulturelles Angebot und um ein Haar hätte ich Karten gelöst für Tim Robbins, der mit seiner Band im Kulturbrauhaus/ Franz um 20:00 Uhr spielen würde. Aber auch sonst war das Angebot überwältigend. Ich schaltete das Radio ein und lauschte dem Jazz Radio im Hintergrund. Es spielten Till Brönner, Peterson, Sunny Rollins und andere. Draussen regnete es wieder. Eine heimelige und gemütliche Atmosphäre. Ich widmete mich in aller Ausführlichkeit dem Rolling Stone Magazin und dem Interview mit Michael Stipe, der in den Hansa Studios in Berlin mit REM sein Album aufnahm, sowie dem neuen Musik-Express und der ersten deutschen Ausgabe (endlich!!!) des britischen Empire Kino Magazins. Stipe hat Recht: wenn man will kann man sich von der Energie der Stadt anstecken lassen.

Mai2010-1222.JPGDas tat ich auch. Zunächst ging ich zum Landwehrkanal und wollte die Stadt vom Wasser aus sehen, auf einer 3h Fahrt auf der Spree. Leider hielt das Schiff nicht mehr an der Anlegestelle und ich war gezwungen etwas anderes zu unternehmen. Vom Kottbusser Tor ging es auf einer wunderschönen erhöhten Strecke mit der U2 zum Technik Museum. Die Idee hatten auch 3000 andere Besucher, es regnete in Strömen, ich liess mich aber nicht abhalten. Der Besuch war es wert, insbesondere die Kommunikations- und Fernseh-/ Filmabteilung. Erstaunlich, wie sich binnen einiger Jahrzehnte gerade die Kommunikation grundlegend verändert hat. Ich betrachtete die alten Telefon-Apparate, die Fernsehstudios aus der Nachkriegszeit und alte Plattenspieler. Fein akribisch sind die kleinen Schachteln mit verschiedenen Motiven ausgestellt, die mit den Tonabnehmern um die Gunst der Kunden werben. Danach zog es mich in die Lokomotiv-Abteilung um zu sehen, wie Menschen vor 100 Jahren in Zügen reisten. Dieser ständige Kontrast in Berlin war Motor des verlängerten Wochenendes.

Ich surfte mit der S5 quer durch Mitte in Richtung Savignyplatz, den ich so liebe. Diese Entfernungen! Binnen weniger Minuten befindet man sich in einem anderen Kosmos inmitten der selben Stadt. Wieder andere Menschen, andere Gebäude, andere Atmosphäre. Nach Scampis in Knoblauchsosse und einem Berliner Kindl zurück mit der S5 zum "Alex". Vorbei an Holz, Metall, Baustellen, grossen und kleinen Gebäuden, Alleen, Technik und den Weiten dieser Stadt. Ich wollte eigentlich zu Fuss den Osten der Stadt erkunden, aber das regnerische Wetter und die Kälte zwangen mich endgültig in die Knie.

Mai2010-1225.JPGDer Alexanderplatz ist eine merkwürdige Zone und der Bereich in Berlin, der auch sonst wo in irgendeiner Grossstadt stehen könnte. Er versprüht im Gegensatz zu den vielen anderen Gegenden keine richtige Atmosphäre. Bahnen kreuzen den grossen Platz, ein gigantisches Kaufhaus blickt auf ihn herab, Bratwurst-Verkäufer mit Schirmen frieren in der Kälte, alles hat eine Hauch von Trash. Irgendwie Schade. An diesem Tag war auch noch eine riesige Kirmes aufgebaut mit Ess-Buden und einem Disco-Zelt, aus dem die immer gleichen Schlager in monströser Lautstärke den ganzen Platz beschallten. Ich ass einen Donut mit bayrischer Creme und fuhr zurück in den Kiez.

Gegen Abend machte ich einen Spaziergang, der alle Tage krönte. Ich ging den Kottbusser Damm entlang zum Herrmann Platz. Lichter, Gerüche, Menschen aus aller Herren Länder, Studenten, Einheimische, kleine Parks, der nie verstummende Verkehr. Am Herrmann Platz überquerte ich die Strasse noch immer unglücklich über die Tatsache, dass ich in dieser grossen Stadt meine Musik-Sammlung nicht hatte erweitern können. Vor Jahren hatte mir ein alter Schulkamerad, der direkt nach der Schule nach Berlin zog und nun nebst Lebenskünstler auch Buchautor ist, den Rat gegeben, mal in den grossen Kaufhäusern zu stöbern. Das fiel mir wieder ein und ich fuhr in den 3. Stock eines grossen Kaufhauses. Angekommen traute ich meinen Augen kaum: 12 riesengrosse Auslageflächen mit CD's bis zum Horizont aus allen Bereichen zu Schleuderpreisen. Wenn diese Giganten wüssten, was sie da eigentlich verkaufen ... . Das Sammlerherz pochte und beseelt von einem schönen Einkauf mit Indie-Platten und Scores ging ich auf die Strasse hinaus, auf der anderen Seite der Strasse zurück nach Hause. Kein Aufenthalt in Berlin ohne Getränke von Lutter & Wegener. Ein perlendes Glas vor mir, Musik hinter mir und die Stadt vor mir. Der letzte Abend beendete eines der schönsten Wochenenden seit langem.

Ich traf an diesen Tagen keinen einzigen unfreundlichen Menschen. Alle war zugewandt und hilfsbereit. Ich war im vollkommenen Rausch und hatte mich endgültig in diese Stadt verliebt. Eine Stadt mit einem rasenden Puls, voller Drang und Energie, einem aber auch die Möglichkeit gebend sich zurück zu ziehen. Eine Metropole voller Reize und Anziehungspunkten. Eine der schönsten Städte der Welt mit einem ungeheuren Potential für dieses noch junge Jahrhundert.

Natürlich ist die Beschreibung des Kiez blauäugig und romantisiert, die wahren Probleme weitaus komplexer und tiefer liegend, aber ein zusammenleben von Menschen verschiedenster Herkunft ist möglich und ausserordentlich reizvoll und anstatt immer nur das zu suchen was schlecht ist, sollte man sich dem stellen was ist oder sein könnte, Dinge positiv sehen und die Perspektiven entdecken, die aufzeigen welche Möglichkeiten es gibt ein Leben zu leben. Ängste zu schüren ist definitiv der falsche Weg.

Ich weiss nicht wie oft ich in Berlin schon war, aber jedes Mal wird der Reiz und die Versuchung grösser immer wieder dorthin zurück zu kehren. Immer in einen neuen Ortsteil, neue Ziele, neue Wege der Erkundungen.

Ich liebe diese Stadt.

Rick Deckard

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