Berlin

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  14. Februar 2010, 13:27  -  #Kommunikation

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Ich freute mich auf die Hauptstadt, wie immer. Trotzdem die zweieinhalb Tage beruflich vollkommen ausgefüllt waren, blieb noch ein klein wenig Zeit für die Stadt. Doch vorher muss man eine kleine Reise antreten und wer sich herablässt mit der Bahn zu fahren, was witterungsbedingt die richtige Entscheidung war, der kann ebenso wie auf Flughäfen Menschen beobachten. Ein zeitloser Klassiker ist das Einnehmen seines reservierten Platzes. Als ich einstieg war mir das schon vorher bewusst:

Deckard:"Entschuldigung, aber den Platz am Fenster habe ich gebucht. Würden Sie bitte aufstehen?"

Passagier:"Haben Sie reserviert?"

Deckard: ...nein Du blöde Kuh, ich erhebe einfach Anspruch darauf, weil ich es mir in den Sinn kommt! "Ja, habe ich!"

Passagier:"Na ja, da kann man nichts machen (!), dann setzte ich mich eben neben Sie!"

Tat es, um sich dann mit einem Buch von Danielle Steel abzulenken. Vor mir sassen ein paar Laptop Träger und ein Bundeswehr-Soldat, der sich einen Film auf DVD ansah. Der Rest der Passagiere war wie immer damit beschäftigt am Mobile Phone herumzuspielen oder am Drehrad des mp3 Players zu drehen. Aus ca. 50% der Ohren liefen weisse Kabel heraus. Nach der üblichen deutsch-englischen Begrüssung nahm der Zug an Fahrt auf. Draussen war es trostlos, weiss und sicherlich bitterkalt. Als der Zug in der nächsten Stadt hielt musste "Danielle Steel" neben mir ihren Platz endgültig räumen, weil eine andere Passagierin den Platz reserviert hatte. Das alles natürlich mit der obligaten vorherigen Diskussion über Bahn, Fahrpreise etc. Etwas später Umstieg in den ICE. Ich nahm neben einem Passagier Platz begrüsste Ihn mit einem 'Guten Abend!' welches natürlich dem Zeitgeist entsprechend nicht erwidert wurde. Gerade als ich in der neuen Jazz-Thing lesen wollte kam es erneut zum Klassiker, als ein Fahrgast 'Herrn Höflich' neben mir aufforderte aufzustehen, Reservierung etc. Die Reaktion:
 
"Det is immer wieder det gleiche! Da musste de Zweejehundert Euro für 'ne Karte bei der Bahn blechen und kannst nicht mal in Ruhe irgendwo sitzen! Ick hab die Schnauze voll!" Schrie es heraus und nahm zwei Plätze weiter vorne Platz. Die meisten dieser Menschen können nicht lesen, geschweige denn denken, insofern hatte ich etwas vergleichbares wie Mitleid. 

Endlich, Berlin! Ich liebe Grossstädte und bin ein grosser Schwärmer des Urbanen und jede Stadt hat ihre besonderen Reize, insbesondere in der Nacht. Es funkelt, glitzert, man hört abebbenden Verkehr und gleich sieht man Menschen aller Couleur auf den Strassen. Herrlich, ich war wieder einer unter vielen. Die Anonymität einer Grossstadt, die ja oft negativ zitiert wird, ist auch ein Vorteil. Der 10 min Gehweg zum Hotel war kalt und erfrischend. Im Hotel angekommen etwas, was ich überhaupt nicht leiden kann, da zu 100% gekünstelt:

Dame an der Rezeption:"Guten Abend Herr Deckard! Schön, dass Sie wieder bei uns sind Herr Deckard. Herr Deckard wie war ihre Reise? Herr Deckard könnten Sie bitte dieses Formular ausfüllen? Danke Herr Deckard. Herr Deckard möchten Sie Mitglied unserer Hotelgruppe werden, es gibt Vergünstigungen Herr Deckard..."

Ich kam gar nicht dazu zu antworten um es überspitzt zu formulieren.

"Einen schönen Aufenthalt Herr Deckard. Herr Deckard möchten Sie frühstücken? Angenehme Nacht Herr Deckard...." Es schallte mir noch in den Ohren als ich den Fahrstuhl bestieg. Oben im Zimmer blickte ich auf einen schneebedeckten Hinterhof einige hell erleuchtete Zimmer auf der Gegenseite, fühlte mich an 'Rear Window' und Jimmy Stewart erinnert. Links vom Hof lag ein Friedhof. Tolle Aussicht. Ich traf meinen Kollegen an der Bar und zu Bier nach deutschem Reinheitsgebot sowie Bourbon mit Eis wurden illustre Themen angeschnitten wie u.a. 'Single Malts'. Draussen sah ich auf eine neonbeleuchtete Werbung und genoss es in dieser Stadt zu sein. Um uns herum sassen einige hundertjährige, die anscheinend den ganzen Abend am Bier nippten und in Gedanken alten Zeiten hinterher träumten. Der Barkeeper tat zuerst bei 3 Gästen an der Theke sehr beschäftigt und vertiefte sich später in die Tageszeitung. 'Herr Deckard' vom Empfang trank mit ihrer Kollegin noch ein Bier zum Feierabend und allmählich wurde es ruhiger.

Am nächsten Tag freute ich mich auf einen Spaziergang zum Tagungsort. Es schneite und schneite und war zudem bitterkalt. Irgend ein Witzbold hatte eine kleine amerikanische Fahne in einen Haufen Hundekot gesteckt, interessantes Motiv, welches gleich fotografiert wurde. Der Kongress war lang und intensiv und in den Pausen das übliche menschliche Verhalten: die Kollegen drängten und schubsten um in Panik erfasst keines der belegten Brötchen zu verlieren. Am Ende des ersten Abends war der Kopf voll und ich meldete mich ab, wollte meine Ruhe. Im benachbarten Markt zum Hotel kaufte ich eine Packung Granola Kekse, Schokoladentatzen und Wasser und zog mich für eine Weile auf das Hotelzimmer zurück, doch die Stadt rief unaufhörlich aus der Ferne wie eine Sirene 'komm heraus, komm heraus und sieh mich an!'. Trotz der Müdigkeit und der Kälte entschloss ich mich einen kleinen Spaziergang zu machen. Der Schnee blies mir unbarmherzig ins Gesicht, doch nach wenigen Minuten genoss ich die Umwelt. 

Das visuelle und akustische Bombardement war für jemanden der an der letzten Bastion zur menschlichen Zivilisation wohnt ungeheuerlich. Die Strassen voller Autos, Menschen aus aller Welt bevölkerten die Gehwege und ich fühlte mich sofort an einen Song von Hildegard Knef erinnert, in dem Sie, ich glaube nach einem Text von Tucholsky, Eindrücke besang in denen es eben um die Menschen geht, die an einem vorbei gehen. Ein Sammelsurium an Sprachen zog an meinen Ohren vorbei. Auf dem Weg Richtung Berlin-Mitte gibt es eine unglaubliche Vielzahl an Restaurants und die Variabilität der kulinarischen Genüsse kennt scheinbar keine Grenzen. Sterne Restaurants und Buletten-Läden harmonisch nebeneinander nebst fernöstlicher Küche und den üblichen Verdächtigen. Famos. Ah, auf der rechten Seite tauchte plötzlich hell erleuchtet 'Zweitausendeins' auf. Gleich hinein, aber ohne etwas wieder heraus. Neben den alt bekannten Bildbänden von Newton und Reiseführern nichts wirklich interessantes, auch nicht auf dem Tonträger-Sektor. Also weiter und vorbei am wie immer hell erleuchteten Friedrichstadtpalast - immer eine kleine Augenweide. Bahnhof Friedrichstrasse rückte immer näher. Rechts die zugefrorene Spree mit Eisschollen und links in der Ferne der Fernsehturm. Es wurde lauter und heller. Ich stoppte und schaute um mich, Mega City machte in diesem Teil ihrem Namen alle Ehre.

Wie von einem Magnet angezogen wurde ich zum Kulturkaufhaus Duismann gelenkt, dem Geschäft, in dem auch Herr von Stuckrad-Barre immer einzukaufen pflegt und dessen Eindrücke er in letzter Zeit gelegentlich im RS Magazine geschildert hat. Ich liebe dieses 'Kaufhaus'. Links die riesige Bücherabteilung, rechts die monumentale CD Abteilung. Mich zog es diesmal in den Keller aus Gründen des neu entflammten Interesses an der klassischen Musik. Ich wurde erschlagen vom Angebot, blätterte hier und da herum und war etwas perplex, ob dieser riesigen Vielfalt. Eine Etage höher in der Filmmusik Abteilung ging ich alle CD's durch, argwöhnisch beobachtet von einem ökologisch-hippiesken Verkäufer, nur um zur Erkenntnis zu gelangen, dass ich die wesentlichen Musiken schon besitze. Ich kaufte eine CD von Dave Grusin zu der Fernsehserie 'The Girl from U.N.C.L.E.' aus den 60'er Jahren und meine Müdigkeit wurde leider grösser. Da ich nichts zu lesen hatte ging ich zum Zeitschriften-Shop an der Friedrichstrasse und kaufte die neueste Ausgabe vom ME mit einer überflüssigen 'Nirvana' DVD als Beigabe. Eine sehr dicke und freundliche Kassiererin ass genüsslich ein Brötchen und korrigierte laut tönend eine Angestellte die Zeitschriften falsch einsortierte.

Auf dem Rückweg sah eine Gruppe von ca. 50 Menschen, die angespannt den Worten zweier Rezensenten lauschten, die unterstützt von Bildern auf der Wand wahrscheinlich etwas über Bertold Brecht erzählten. Auch das ist Berlin. Im Hotelzimmer angekommen blätterte ich zu einigen Schokoladentatzen die neue ME durch und ärgerte mich immens über das ganze besch.... Magazin. Ich habe es zum letzten Mal gekauft. Nun wurden auf mehreren Seiten mit schlechten Kommentaren die 90'er Jahre porträtiert und als Revival angekündigt. 'History repeats itself', leider. Im Fernsehen liefen die üblichen blöden Sendungen und Filme, so dass mir keine Wahl blieb als die Augen zuzumachen.

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Der zweite Tag des Kongresses glich dem ersten. Sicherlich sehr interessant, aber am Ende mental doch etwas ermüdend. So keimte in allen der Gedanke auf etwas essen zu gehen und sich in der Stadt zu verlieren. Es schneite weiter unaufhörlich und auch die Temperaturen waren gefühlt weiter abgesunken. Erstaunlich was man in der gleichen Strasse neues sieht und auch übersieht, wenn man einen Tag später den gleichen Weg geht. Direkt gegenüber vom Hotel war ein Jazz Club, dessen Eingang aber so unspektakulär war, dass man ihn leicht übersah. Am Friedrichstadtpalast war irgend eine Veranstaltung der zeitgleich laufenden Berlinale, Autos fuhren vor und wieder weg, grosse Massenansammlung von Menschen und Fotografen. Wir konnten von der gegenüberliegenden Seite jedoch nichts ausmachen und hörten auch kein Gekreische. In Mitte entschieden wir uns für einen Self Help Italiener, da die beiden anderen Kollegen keinen Hunger auf Schnitzel, Kölsch und Politiker in der 'Ständigen Vertretung' hatten. Das Konzept dieses als Restaurant geführten Kette ist simpel: man holt sich sein Essen direkt von der Theke ab und kann den "Koch" bei der Zubereitung beobachten. Am Eingang wurde uns in 2,5 min das Prinzip mit der elektronischen Karte erklärt, von einer sehr enthusiastischen und dicklichen Dame. Ich entscheid mich für Linguine mit Entenbrust, Knoblauch, klein gehackten Zwiebeln, einer milden Curry Soße und Erdnüssen, dazu das obligatorische Brot und ein Bier. Um uns herum sassen fast ausschliesslich junge Menschen, viele Studenten und einige Touristen. 

Auf dem Rückweg sahen wir ein grosses Gebäude mit der Aufschrift 'Deutsches Zentrum für Beckenboden' und einen verwaisten roten Teppich am Palast. Alle Fritten-Buden an den Seiten waren hoch frequentiert und ein kleiner Mann an Stützen schimpfte vor dem 'Oscar Wilde' über unzumutbare Zustände für Behinderte. Ein Kollege hatte in seinem Zimmer über W-LAN recherchiert und schlug den Jazz-Club gegenüber vom Hotel zum Ausklang des Abends vor, das 'Schlot'. Versteckt von der Hauptstrasse in einem wunderschönen modern-alten Hinterhof gingen wir die Treppe hinunter. An der Kasse sass eine junge Frau die Füsse mit Socken bedeckt ein Buch lesend, hinten aus den Räumen war noch keine Musik zu vernehmen. Ein Kollege verliess uns in Richtung Hotel und wir anderen zwei gingen hinein. Innen war gerade eine Big Band dabei, welche vornehmlich aus jungen Menschen bestand, ihre Instrumente einzustimmen, wir waren rechtzeitig da. Zu Flensburger Pilsener (!) und Red Label waren wir nun gespannt.

Ganz vorne rechts stand das Mastermind der Truppe, ein Nerd, natürlich mit Brille und einer Phoenix Frisur, der die Titel ankündigte und etwas zu Ihnen erklärte. Scheinbar alles eigene Kompositionen und respektabel, aber trotz allem eine krude Mischung aus Avantgarde, Funk, Big Band Sound und Jazz. Klang aber homogen und hörenswert. Ich war überrascht, dass der anwesende Kollege im Zug 'Jazz Thing' las und interviewte ihn dazu. Es kamen fundierte und in sich schlüssige Antworten im Hinblick seiner Zuwendung zu Jazz, seiner Vorliebe zum ECM Label und deren Musik, sowie eine recht differenzierte Betrachtung der PoP-Musik und die sehr stimmungsabhängige Zuwendung zum "Punk", als etwas, was einen aus der Lethargie reissen würde. Er hatte sich bisher wenig Gedanken zur Geschichte des Jazz gemacht und auch noch keine Hörerfahrung mit Parker, Davis oder Hubbard & Hancock, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Ich war froh endlich mit einem Menschen über Musik zu sprechen. Derweil spielte die Band aus vollen Zügen und eine Sängerin gesellte sich zu Ihnen, was nun folgte war ein operettenhafter Gesang, klassisches Liedgut in Kombination mit Big Band. Hatte alles seine Reize. Das Publikum bestand grösstenteils aus Eltern der Musiker, Studenten und einigen Musik-Polizisten. Ich wollte wissen wer genau da singt und spielt und fragte eine Minus-Variante von Jean Paul Gaultier hinter dem Mischpult.

Antwort des Herren: "Äh, pass mal auf, det jeht jetze nischt, die Dame da vorn singt gleich, da stört unsere Unterhaltung nur (wir waren ca. 15 m entfernt von der Bühne und ich flüsterte). Wir können uns später unterhalten!" und fasste mich dabei krallenartig an den Oberarm. Eine Mischung aus Übelkeit und Zorn kam in mir hoch. In der Pause hatte "Jean Paul Gaultier" nichts besseres zu tun als Bier zu zapfen und ging davon aus, dass ich mich erniedrigen würde ihn nochmals zu fragen, was ich natürlich nicht tat. Jeder will reich und berühmt werden, daher wurde in der Pause auch eine CD von der Band angeboten. Ich zog mir die Jacke über und ging hinaus in die kalte Berliner Luft. Der Hinterhof imponierte mir mit seiner Mischung aus alt und neu. Im Hotel sass der Nacht-Portier vor dem Fernseher und beachtete mich nicht. Vor Müdigkeit fielen die Augen zu.

Die Taxifahrer sind auf Harmut Mehdorn und den neuen Hauptbahnhof/ Lehrter Bahnhof überhaupt nicht gut zu sprechen. Alle trauern dem 'zoologischen Garten' hinterher. Vor dem Hauptbahnhof steht eine grosse Pferdeskulptur aus Metall rechts sieht man die Charite und weiter Richtung Süden erhascht man einen Blick auf Mitte. Natürlich hatte der ICE 30 min. Verspätung, ich erkannte einen Schauspieler auf dem Bahnsteig, konnte ihn aber namentlich nicht zuordnen. Die Ansagen aus 14 verschiedenen und leisen Lautsprechern führten dazu, dass vollkommenes Chaos auf dem Bahnsteig herrschte, alte Menschen überhaupt nichts verstanden und hysterische Frauen ständig von A nach E rannten in der Hoffnung direkt vor ihrem Abteil zu stehen. Als wir schliesslich auf den Bahnsteig gegenüber gelotst wurden war das "Oh Mann!" Geschrei gross. Berlin floss an mir vorbei und mich überkam etwas Wehmut. Der Schaffner hatte anschliessend grösste Mühe alle Fragen der "Reisenden" zu beantworten, tat das aber mit nach aussen grosser Geduld. Mobile Telefone klingelten in einer Tour und alle waren damit beschäftigt ihre Verspätung weiter zu geben mit den gleichen Worten. Zwischendurch eine Ansage:" ... in dem Abteil mit der (Achtung!) Ordnungsnummer 35 befindet sich das Bordrestaurant....!" Ordnungsnummer? Hiess das nicht früher Abteil oder ähnlich.

Es hat fast 24h gedauert, bis ich diese Eindrücke alle verarbeiten konnte. Eine pulsierende, offene, reizvolle, moderne und zeitgleich alte, beeindruckende und immer wieder einladende Stadt.

Gruss mit einem Rest Berliner Luft in der Nase,

Rick Deckard
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