Alan Lomax über 18 Jahre Tocotronic

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  11. Dezember 2012, 15:04  -  #Populäre Musik

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Es muss im Jahr 1995 gewesen sein. Musikfernsehen hatte damals noch eine Relevanz. Auch wenn Leute von der Indie-Polizei, in der ich damals Mitglied war, der Vollrotation von Chartmusik ehr kritisch gegenüber standen. Egal, auf jeden Fall habe ich dort irgendwann das Video zu „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“ von der Band Tocotronic gesehen.

Schon immer hatte ich eine starke Affinität zu  Rockmusik mit deutschen Texten. Noch stärker war meine Affinität zu amerikanischer Gitarrenmusik. Wie also sollte ich dieser Nummer aus dem Weg gehen können?

1995 war die Debütplatte „Digital ist besser“ wahrscheinlich die Schallplatte auf die sich jeder einigen konnte. Einige Voreilige sprachen sogar von der besten deutschen Platten überhaupt. Findige Plattennerds aus Norddeutschland kannten Tocotronic bereits ein Jahr zuvor. Und jeder der was auf sich hält, wird heutzutage sagen, dass er bereits im Sommer 1994 „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung Sein“-T-Shirts trug. Ich nicht! Dafür habe ich die Drei das erste Mal mit den famosen „Guided By Voices“ auf der Popkomm gesehen, bevor bereits im nächsten Jahr größere Halle für Live-Auftritte, kaum noch ausreichend waren.

Meine Lieblings-Tocotronic-Platte erscheint im Jahr 1996! „Wir kommen um uns zu beschweren“, lässt vermuten wie viel Wut, Potenzial zur Gerechtigkeit und Fähigkeit Musik zu lernen, weil man zu hört, die Hamburger Schule US-College-Band Tocotronic in sich vereint. Damals eigentlich schon etwas zu alt für zu viel „Unsicherheit des Erwachsenwerdens“, habe ich gerne noch einmal einen Schritt zurück gemacht.

Während der Popkomm 1996 lehnen Tocotronic dann den Comet (Musikpreis Viva) ab. Der junge/alte Musiksender hatte seinen Skandal, die Band eine gute Promotion und alle einen guten Abend, weil ja auch noch Kiss aufgetreten sind.

1997 erscheint die Maxi-Single „Sie wollen uns erzählen“. Dieses wunderbare Kleinod an Song, mit tatsächlicher Wahrheit, zwischen Kleinlaut und Wortsturm, gehört noch immer zu meinen Lieblingsliedern überhaupt.

Zwei Jahre später war ich Vater und hielt mich oft in Tier- und Wildparks auf! Eine riesen Schritt und ungewohnt lange Spaziergänge mit meiner Tochter im Kinderwagen, beleuchteten meinen Stolz und zauberten mir ein wissendes Lächeln im Gesicht, mit den Ohrhörern im Kopf und dem Song im Herzen. …denn unsere Leidenschaft ist ihnen rätselhaft!

Die folgenden Platten K.O.O.K und Tocotronic entdecke ich gerade heute wieder. Damals ging das einfach nicht bei mir rein. Schreiben wir es einfach der Lebensphase zu und nicht der vorhanden oder mangelnden Qualität der beiden Scheiben. Allerdings habe ich Thees Uhlmanns „Tocotronic-Tourtage-Bücher“ gelesen. Und ich gebe es zu, ich hatte die Band verloren, aber einen neuen Helden gewonnen.

Erst 2005 beim Haldern-Pop-Festival wurde mir während eines extrem kraftvollen und brachialen Auftritts von Tocotronic klar, dass diese Band erwachsen geworden ist. Das Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ ist ganz schlicht gesagt, eine Schönheit, wenn man sich mit Dirk von Lotzow’s Texten beschäftigt. Selten wurde deutsche Lyrik so gut mit kritischen Popgeisteshaltungen (Aber hier leben, nein danke) zusammengebracht.   

Trotz mehrfachen anhören und Vorspielens einiger unermüdlicher Musikkollegen gab es keine Chance für die Alben Kapitulation und Schall & Wahn. Ich kann es an dieser Stelle leider nicht erklären.

Bevor jetzt der große Aufholhype, Rückblickwahnsinn und Banderklärungswettbewerb losgeht, weil die junge Band Tocotronic tatsächlich schon 20 Jahre alt wird, hatte ich zufällig letzte Woche auf einem alten Tape/CD „Sailor Man“ und „Hi Freaks“ in irgendeinem Remix gehört. Nun also Coverstories, Geschichten und Mythen in Tüten von denen und ein Fazit von mir:

Tocotronic bedeutet mir viel mehr, als einige Menschen die mich kennen, vielleicht denken. Ich spreche lieber über andere Bands, auch weil ich bei Tocotronic immer das seltsame Gefühl habe, sie nicht richtig zu verstehen, weil sie mir überlegen sind. Über eine Relevanz und Wichtigkeit in der deutschen Pophistorie muss gar nicht gesprochen werden. Aber eine eigene Überlegung wo diese Band denn tatsächlich persönlich bei einem steht, kann, einen in den 1970er Jahren geborenen Popmusikliebhaber, nicht schaden.

„Titel, Thesen, Temperamente“ mit den drei Wörtern möchte ich Tocotronic für mich persönlich zusammenfassen,

Alan Lomax (möchte gerne weiter als unwissender Lehrmeister leben) ? …lesen Sie dazu auch www.tocotronic.de Wie wir leben wollen….

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