"Willkommen in der realen Welt!"

von Alan Lomax und Rick Deckard  -  1. April 2009, 14:33  -  #Filme



Die blaue oder die rote Pille?

Ich habe mich in meinem Leben für die
rote entschieden.

Filmlisten sind immer ein Abbild der Epoche in der sie aufgestellt werden. 'Matrix' gehört nach langem überlegen definitiv in meine aktuelle (nicht chronologische) Top 10 Liste und das aus verschiedenen Gründen. Vor genau 10 Jahren revolutionierten die Wachowski Bros. das Kino und setzten mit diesem Film einen Meilenstein. Sie kombinierten Philosophie mit Action, Anspruch mit Unterhaltung, Science Fiction mit Realität. Nicht, dass das nicht vorher schon versucht wurde, aber es gelang Ihnen in Perfektion. In der Folgezeit gab es kaum einen Film, der nicht Bezug nahm auf dieses atemberaubende audio-visuelle Ereignis. Ähnlich 'Die Hard' von John Mc Tiernan wurde unentwegt aus 'Matrix' zitiert, insbesondere die optische Gestaltung.

Ich erinnere mich genau, als ich diesen Film zum ersten mal sah. Ohne Erwartung und mit Spannung bin ich in das Kino gegangen und als ich herauskam zierte ein breites Grinsen meine Mundwinkel, ein solches, was jeder Cineast gerne zur Schau trägt.

Wahnsinn!

Die innere Stimmung glich einem Orkan, so aufgewühlt war ich, denn endlich nach vielen Jahren war hier etwas vollkommen neues, etwas aufregendes auf der Leinwand zu sehen gewesen. Erwähnte ich in dem ersten Film der Top 10 Reihe Lean und seinen berühmten Satz "Wir handeln mit Träumen", dann kann man nur schlussfolgern, dass die Wachowskis alle Facetten eines solchen vom Alp- bis zum feuchten Männertraum so gut gehandelt haben, dass man gerne Geld dafür bezahlt hat. Alle Ansprüche an das Kino wurden nicht nur erfüllt, sondern übertroffen. Die grossartigen Sequenzen in diesem Film waren und sind erstaunlicherweise die, in denen keine 10 000 Patronenhülsen auf den Boden fallen, sondern in denen Dialoge stattfinden. 

Der Film hat keinen pessimistischen, sondern eher einen äußerst skeptischen Blick auf die Welt, die Menschen und seine Errungenschaften und versucht die klassische Frage zu beantworten "Was wäre wenn?" Ein Leitmotiv des Science-Fiction Films. Nun gehört 'Matrix' nicht unbedingt nur in dieses Genre, aber zu grossen Teilen. Ausserordentlich geschickt und mit viel Sinn für die Popkultur schaffen es die Regisseure eben diese Frage doppeldeutig zu beantworten.

Was wäre wenn das Leben ein Traum wäre und man würde aufwachen und nicht wissen, ob man in der Wirklichkeit oder weiter im Traum lebt? Wie oft gibt es Szenen aus dem eigenen Leben, Episoden, in denen man sich wünscht das alles wäre nur ein Traum? Ein Deja vu? Wir wissen jetzt was das ist. A
ber das ist nur ein Aspekt dieses Films.

Was mich bewogen hat 'Matrix' in die Liste aufzunehmen ist seine Kritik an der Apathie und Bequemlichkeit der Menschen und der Aufruf seinen Verstand zu benutzen. Was das betrifft ist er nach wie vor aktuell. In einer der besten Szenen des Films weiht Laurence Fishburne Keanu Reeves in das Geheimnis der Matrix ein. Ist das was wir sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken Realität? Ein klarer Verweis an Immanuel Kant und 'sein Ding an Sich'. Diese Frage beschäftigte die Philosophen schon seit jeher. Und jetzt steht da Larry F. in einem augenfälligen Outfit mit einem Zwicker auf der Nase und stellt diese Frage Reeves. Sagenhaft! Aber der packendste Moment des Filmes kommt erst, als er darauf verweist, wie angepasst die Menschen vor sich hinleben ohne auch nur irgendetwas zu hinterfragen, weil sie sich gewöhnt haben, weil es eben leicht und bequem ist. Verschliesst man die Augen vor der Realität oder nimmt man sich Ihrer an? Hinterfragt man etwas oder lässt es auf sich beruhen? Diese Fragen haben zeitlosen Charakter und man ist ebenso wie Keanu Reeves geschockt, als man im Film die Wahrheit erfährt.

Ich bemerkte in der Folgezeit ähnlich wie bei 'Star Wars' sehr häufig Zitate aus dem Film im normalen Alltag, in etwa: "In Wirklichkeit sind wir..." oder "Ein Deja Vu? Das war ein Fehler in der Matrix!" usw. Das zeigt, dass schon ein gewisser Effekt auf das Publikum vorhanden war, der nicht am Ausgang verpuffte.

'Matrix' ist ein Sammelsurium und Zitategewitter (nicht zum Selbstzweck) der Kinokultur der letzten 50 Jahre. Der "geübte" Zuschauer wird einen immensen Teil an Querverweisen aus Filmklassikern erkennen, die aber wunderbar in die Handlung eingeflochten sind und klug in die Szenen integriert werden. Der Film war eine Offenbarung an das Kino und nach 'Die Hard' der erste grossartige und wegweisende Actionfilm seit langer langer Zeit. Um Quentin Tarantino zu bemühen:" That's why they call it 'Motion Picture'!" Der visuelle Stil des Filmes ist schlicht und ergreifend überwältigend, auch nach 10 Jahren. Spektakuläre Szenen in Slow Motion verbunden mit einer unverkennbaren Hommage an John Woo der Extraklasse. Selbst der Showdown, das klassische Duell im Western wird hier auf ein neues Niveau gehoben. Das Kinoherz hat bei der Premiere gejubelt. Als dann noch die Artistik des fernen Ostens in den Film eingebaut wurde, hab es kein halten mehr. 

(Und wer hier bemängeln möchte, dass ein Film sich nicht nur durch Verweise auf andere Filme erheben sollte, dem empfehle ich den Audiokommentar von Sir Christopher Frayling zu Sergio Leone's Masterpiece 'Once upon a time in the West'. Auf andere Filme hinweisen heisst nicht klauen, sondern die Kunst weiterentwickeln.)

Das ist Kino in Vollendung, weil der Film es schafft auf allerhöchstem Niveau zu unterhalten. 

'Larger than Life' fehlt noch? In der Schlusssequenz steht Keanu Reeves aka Neo ganz in schwarz drei Agenten gegenüber. Sehen Sie sich diese Szene an, dann werden Sie verstehen, warum Menschen ins Kino gehen. Don Davis'   Streicher wachsen über sich hinaus, es treibt einem Tränen der Freude in die Augen.

'Matrix' ist ein Klassiker.

Seid vorsichtig, wenn Ihr demnächst einer Blondine im roten Kleid begegnet.

R.D.


Bildquelle: Copyright Warner Bros.
 
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