"Wir sind Frei!": Mein erstes Konzert, Teil II
Polarisierung. Das "Stich"wort meiner Jugend. Zu der Zeit wurden äußerlich klare Grenzen gezogen: Popper oder Punker! Ich gehörte weder in die eine, noch in die andere Gruppe, sondern sondern eher zu diesen Undefinierbaren. So dachte ich jedem dieser Gruppen müssten bestimmte Attribute zugesprochen werden und ausserhalb derer war nichts anderes möglich. Dogma. Nun stand ich am 2. Tag der popkomm im Konzertsaal und sah diesen Mann da vorne, der doch tatsächlich mit Popper-Tolle, blauem Blouson und weissen Baumwollhosen grossartige Songs zum Besten gab. He, Moment mal, dass geht doch nicht: wie kann einer so angezogen und doch etwas völlig anderes sein?! Erstaunlich, der wurde vom Publikum total akzeptiert. Mein Weltbild geriet ins stottern. Doch der Reihe nach.
Am folgenden Tag war Mr.Lomax, wie immer nach durchzechten Nächten, um 05:00 morgens bereits gewaschen und gestriegelt und sass am Frühstückstisch, als ich um 11:00 Uhr erwachte. Zu der Zeit pflegten wir bestimmte Rituale. Eine dieser nach vorgegebenen Regeln ablaufende Handlung mit hohem Symbolgehalt war der Besuch eines CD-Warenhauses am Hansa-Ring. Lomax wollte sich unbedingt vor dem Konzert am Abend eine Single kaufen. Vor diesem Konzertabend verschwand ich in diesem Laden sofort in die Filmmusik-Ecke. Doch ab jetzt war alles anders. Wir blieben unten und ich hielt plötzlich CD's von Bands wie 'Yo la Tengo', 'Stereolab', 'Belle & Sebastian', 'Phoenix' usw. in den Händen. Wir besorgten uns die Single 'Wir sind frei' von Blumfeld. Es war um mich endgültig geschehen. Was ich da hörte war meine Seele, meine Lebensauffassung, meine Ideale. Ich war emotional total erschüttert und mein musikalisches Kartenhaus brach in sich zusammen: BLUMFELD! Was für ein Song, was für eine Melodie, was für eine Poesie/Philosophie!!!
Am Abend tranken wir einige obergärige Bier aus Flaschen mit roten Labels und fuhren los. Zu dem sympathischen jungen Mann vom Vorabend gesellten sich ein Bank-Beamter, ein Reifenhändler, der mich nicht ausstehen konnte, ein Blondie mit Erlend Oye Brille und Umhängetasche, Lomax und ich. Wir fuhren auf die andere Seite des Rheins nach Deutz und weiter zu Fuss mit anderen Konzertbesuchern in Richtung Zentrum des Geschehens. Ich war noch aufgeregter als am Vorabend. Angekommen tranken wir weiter, der junge Mann und der Reifenhändler verschwanden in die obere Etage um einen Film über goldene Zitrusfrüchte zu sehen und die anderen verdufteten wie Sonnenstrahlen in alle Ecken. Ich stand in der Gegend rum und wusste nichts mit mir anzufangen. Wie auch, wenn man bisher strengen Regeln eines Konzertbesuches unterworfen war: Ihr erinnert Euch, konservatives Elternhaus, Klassik usw. Ich lief den anderen nach draussen hinterher, während drinnen die ersten Bands spielten. "Wollt Ihr nicht rein?" Lomax "erklärte" mir wie das hier alles ablief, bevor es zu peinlich wurde. Draussen war ein wildes Sammelsurium aus Menschen und das erste mal in meinem Leben kam ich mir jung vor. Überall Menschen mit modischen Klamotten, coolen Frisuren, lässigen Gesten und Umhängetaschen. Ich war gespannt 'Kashmere' zu hören, eine Band aus Dänemark. So wagte ich den Schritt und ging alleine rein. Wall of Sound. Ich war im Rausch. Meine Blicke wechselten unentwegt von der Bühne zum Publikum und zurück.
Dann kamen endlich 'Blumfeld' auf die Bühne. Die alten Songs kannte ich nicht oder nur sporadisch, aber Jochen Distelmeyer war absolut grossartig. Gestern 'Die Sterne' heute 'Blumfeld'. Wunderbare Momente in meinem Leben. Das Bier floss. Dann passierte etwas, was mir ein riesiges Grinsen um die Mundwinkel legte: Am Ende von 'Wir sind Frei' spielte Distelmeyer plötzlich Takte eines Songs von Cole Porter, nämlich 'Everytime we say goodbye'. Wenn sich ein Kreis öffnet und SO wieder schliesst, dann liebe Freunde dieses Blogs ist das eines: GLÜCK. Lomax' Grinsen blieb mir nicht verborgen.
"Alles ist möglich!" Das war die Essenz dieses ersten Konzertes in meinem Leben. Für Euch vielleicht selbstverständlich, für mich keineswegs.
Danach wurde mir mulmig. Mr. Lomax kam und warnte mich, dass nun eine Band auf die Bühne käme, die so laut spielten, dass ich mich nach hinten stellen möge: 'Mogwai'. Meine Fresse waren die laut. Ich steckte mir die Finger in die Ohren, vor mir hatte sich einer Zigarettenfilter in die Ohren gesteckt. Der Bass war so heftig, dass Schallwellen meinen Bauch durchdrangen. Was passiert hier? Irgendwann verliessen alle Musiker nach und nach die Bühne, veränderten irgendetwas an den Instrumenten, legten eine Gitarre auf den Boden und ein fast monotoner Klang spielte minutenlang und keiner ging weg. Alan stand recht entspannt irgendwo vorne mit den Händen in den Taschen. Mist dachte ich, dass möchte ich auch, nahm kurz die Finger aus den Ohren, aber umso schneller wieder rein.
Was für ein Abend! Draussen trank Spilker mit einer, von den anwesenden barsch kritisierten, Rotzbremse einige Bierchen und wir warfen uns zufällig Blicke zu. Geil, ich habe einen Rockstar unter Menschen gesehen. Noch so ein Erlebniss.
Als das Konzert zu Ende war pisste ein Besucher gegen etwas, von dem er meinte es sei eine Wand, was sich aber als Maschendrahtzaun erwies. Grosses Gelächter, nicht wegen der Aktion, sondern wegen seinem Lümmel. Auf der Strasse ähnelten sich die Szenen die ich sonst auch nach Konzerten kannte. Der Kampf um Taxis. Eben dieser Pisser drohte unseren Bank-Beamten zu verprügeln und um ein Haar wäre eine Massenkeilerei daraus entstanden, hätte der Taxifahrer nicht so besonnen reagiert.
In den darauf folgenden Monaten zierten solche Bands mein Compact Disc Regal: 'Kante', 'Tomte', 'Fehlfarben', 'Tocotronic', 'Kettcar', 'Superpunk' und 'Paula'.
Ich habe eines gelernt nach diesem Concert: Be open minded!
Und erinnerte mich an einen Klassiker aus Kindertagen am Esstisch: "Hast Du es wenigstens probiert?"
Euer Musik-Gourmet,
Rick Deckard.
Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren: