Die Evolution des Trägermediums

von Alan Lomax und Rick Deckard  -  10. März 2009, 20:17  -  #Populäre Musik



Meine erste Langspielplatte war der Original Motion Picture Soundtrack zu 'Lawrence of Arabia' von Maurice Jarre. Für DM 29,95 war ich im stolzen Besitz meines ersten Tonträgers. Das war vor fast 20 Jahren. Vorsichtig wurde die Folie abgelöst, mit der klassischen Handbewegung des flachen Handtellers die Platte aus dem Cover entfernt, ebenso vorsichtig  auf den Teller gelegt und auf Start gedrückt. Was für ein Ritual! Im Polstersessel der Eltern bequem gemacht, die Augen verschlossen und der Musik gelauscht. In der zwingenden Pause tief durchgeatmet, die Seite gewechselt und den Genuss fortgesetzt. 

Einige Jahre später erzählte mir T.K. Herry aus der Nachbarschaft er hätte sich eine CD von Depeche Mode gekauft und lud mich ein diese mit Ihm zu hören. Das waren noch Zeiten, als man zu so etwas eingeladen wurde! Um im Kontext zu bleiben: 'Music for the Masses' begann. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht wie ich diese Neuerung einzuschätzen hatte. Die Anlage wurde voll aufgedreht und ein Hauch Sterilität umgab mich. Die Musik war grossartig, aber um ganz ehrlich zu sein, rückblickend erinnere ich mich noch sehr gut, es war auch nicht sonderlich phänomenal. Plötzlich standen nicht nur die Ohren im Vordergrund, sondern auch die Hände, denn das Manuelle überwog: es wurde wild mit der Programmierung hin- und her gedrückt und auf 'Teufel komm raus' sich die Finger wund programmiert.

Irgendwann konnte ich meine Eltern überzeugen auch einen solchen CD Player zu kaufen. Ich gehörte nicht zu den Jugendlichen die über ein eigenes Vermögen verfügten und
musste meine Eltern fragen, falls das jemanden verwundern sollte. Nun ja, der erste Kauf war wiederum ein Soundtrack, nämlich 'Willow' von James Horner. Eine feine Sache wie sich diese kleine Schublade öffnete, den Silberling verschlang, die farbige LCD Anzeige sich veränderte und kristallklare Musik erklang. Und bequem war es auch: Man brauchte nicht mehr aufzustehen, sondern konnte die Musik in einem durchhören. Es war sogar möglich seine Lieblingstracks zu programmieren! Grossartig. Und weniger Platz beanspruchten Sie auch noch. Alles wurde einfach und bequem. 

Vor einigen Jahren kam eine weitere bahnbrechende Erfindung von einem Institut mit Namen Fraunhofer hinzu und zu den Buchstaben kam eine Zahl. Die Evolution lautete LP, CD, mp3.

Es entwickelte sich alles von groß und schwarz über klein und silber zu unsichtbar.

Eines Tages stand ein abgebissener Apfel vor mir.

Man brauchte nur noch sitzen zu bleiben, Geld war nur eine Zahl auf den Kontoauszügen, das Auspacken beschränkte sich auf einen blauen Balken der immer länger wurde und in Gänze wurde 'eh nichts mehr gehört. Herrlich: "Keep your ass at home and buy in virtual shop!" Der Plattenladen des Vertrauens war bei Dir zuhause. Pfeif auf die Beratung (wenn es denn je eine gab), ein Begriff bei Google eingeben und 200 000 Rezensionen auf einen Schlag! Mein Freund aus dem Harz würde sagen: "Goile Sache Aldder!" Kein Gedrängel mehr, kein Anstehen an der Kasse, kein Geld abheben an Automaten, kein Kunststoff-Müll mehr im Papiereimer. Der Mix wurde blitzschnell ohne grossen Aufwand erstellt und über eine Telefonleitung verschickt. Sagenhaft. Bei Musik-Sessions konnte man seine Auswahl in Ruhe zusammenstellen und sie den Gästen präsentieren. Neurotiker wie mich freute dass, waren doch keine fettigen Abdrücke mehr auf den Scheiben oder Hüllen, keine Asche und kein Bier fiel oder tropfte einem aus der Hülle. Der Austausch von Musik war schnell und grenzenlos, ein Umstand, der einen wirklichen Vorteil und eine grossartige Errungenschaft darstellte. Ansonsten ist man damit beschäftigt Listen zu erstellen, Tracks hin und her zu schieben und Musik die man nicht mehr mag in den virtuellen Papierkorb zu bewegen. "Kostet doch eh nichts der Scheiss und wenn, dann nur mickrige 0.99 €!" Eine alte Platte oder CD würde man nicht so schnell entsorgen.

Wie ist es wohl in 20 Jahren? Wahrscheinlich so: man kommt nach Hause, schmeisst die Jacke über den Stuhl und sagt in den Raum: "Hallo HAL, lade bitte den 2. Track aus der aktuellen CD von den 'Stones' (die gibt es dann wahrscheinlich immer noch) und spiel Ihn mit der und der Equalizer Einstellung!" Fletzt sich in den Sessel, trinkt irgendeinen Designer-Mist und wird von allen Seiten beschallt.

Wenn man ganz ehrlich ist: haben wir als Musik begeisterte Hörer von dieser Evolution des Mediums wirklich profitiert?

Das einzige was geblieben ist sind die Boxen.

Statt Plattenspieler und CD Player beglückt uns nun ein Computer.

Euer

Rick Deckard
 
Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren: