20 Intro – Köln – Erstaunliche Mouse on Mars - ...und ein erschütterndes Jubiläum!

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  4. März 2012, 14:26  -  #Konzerte

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Zur Erklärung! Köln ist eine merkwürdige Stadt, mit all’ den merkwürdigen Geschichten, die andere Städte auch erfahren. Vor drei Jahren stürzte das Kölner Stadtarchiv mitten im Zentrum ein. Von einer Minute auf die andere! Meine Tochter saß in der U-Bahn wenige 100 Meter entfernt als das passierte. Fünf Minuten vorher ist sie an dem seltsamen Haus, das es heute nicht mehr gibt, vorbeigelaufen. Ich will darüber nicht weiter nachdenken. 

Alle städtischen Archivalien waren verschüttet. Schuld sind viele, dann wieder kein einziger. Schwer zuzuordnen. Politik, Geld, Klüngel! 

In einer Halle auf der anderen Rheinseite werden alle Fetzen Papier nun neu aufbereitet. Steuererklärungen, Urkunden, Dokumente liegen millionenfach verdreckt, verstaubt, feucht und verfault rum und müssen wiederhergestellt werden. 

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Dabei wird jedes Blatt, jeder Zettel, behandelt wie ein seltener Schatz. Eine unfassbare Logistik und menschliche Leistung, die nach Einschätzung von Fachleuten ein ganzes Menschenleben dauern wird. 

Die Stadt Köln veranstaltete am vergangenen Samstag  -3 Jahre danach- einen Tag der offenen Tür und gab den sehr interessierten und vielen Kölner Bürgern die Möglichkeit einen tiefen Einblick in die feinteilige Arbeit. 

Bei Durchlaufen der langen Flure zwischen riesigen fremdartigen Maschinen und Dokumentenaufbereitungsanlagen, nur abgelenkt von Menschen, Forschern und Mitarbeitern in weißen Kitteln, kommt man sich vor, wie in einer Zukunftskulisse. 

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Mag es eine humorige auf den Namen der Band bezogene Maßnahme oder ein schlauer Clou gewesen sein, irgendein Kölner Mensch lud die Band „Erdmöbel“ ein um dem „offenen Tag“ einen zusätzlichen Unterhaltungswert zu schenken. 

Fast subtil saßen die fünf Herren dann unter einer Traube von Luftballons in einer alten Lagerhalle und spielten ihre wunderbare Musik. Sicherlich auch für die Band eine merkwürdige Situation. 

Natürlich hat im Publikum kaum jemand Markus Berges Zeilen aus dem Song „Wurzelseeliger“ richtig verstanden. Ich schreibe es noch mal auf, da es alles über dieses merkwürdige Panoptikum des Nachmittags sagt: 

In die Fläche singen

In Ruhe ertrinken

Nach Pisse stinken

Zum Abschied winken 

Die Musik der Kölner Band ist im letzten Jahr ein großer Bestandteil meiner Musikleidenschaft geworden. Zum ersten Mal gesehen, habe ich sie nun bei dieser denkwürdigen Veranstaltung. 

Vor Thees Uhlmann’s Schaffenskunst, Leidenschaft und permanent vorgetragener Wahrheit verneige ich mich seit Jahren. Auch ihn habe ich gestern das erste Mal live spielen sehen. 

Wir feiern ein weiteres Jubiläum! 20 Intro! 20 Jahre kostenloses Musikmagazin mit Inhalt und geschickten Marketing. 20 Jahre Plattenempfehlungen, 20 Jahre sinnvolle Musikbeiträge, 20 gelebte und geschriebene Popkultur und natürlich Introducing Konzerte. Da muss man einfach gratulieren! Das Magazin schenkt mir also u. a. Thees Uhlmann und einen mitreißenden, hemmungslos sympathischen und ins Zentrum des Herzens treffenden Akustikauftritt des Tomte und GhvC-Chefs. „Die Schönheit der Chance“ spielt er am Ende seines kurzen Auftritts. Ich habe tränen in den Augen. 

Dann kommen Maximo Park! Beeindruckend eine der am best aussehensten und klingenden britischen Livebands abermals zu sehen. 

We look upon the sea! 

Ich singe lauter als Paul Smith, bin völlig mitgerissen, begeistert. Nichts ist schöner als Konzerte zu sehen. Trotzdem ahne ich, dass im kleinen E-Werk etwas Besonderes passiert. Eine elektronische Kraft, die Neugierde und ein Instinkt löst mich von der Band aus Newcastle. Schweren Herzens. 

Ich betrete den neuen Raum. Auf der Bühne stehen Jan St. Werner (Köln) und Andi Toma (Düsseldorf) und sitzt wie eh und je unterstützend am Schlagzeug Dodo Nkishi. Ein Zeittunnel! Es war in den Neunziger Jahren als ich die Band fast täglich gehört habe. Weil sie für mich die konsequente avantgardistische Fortführung und Zusammenführung von CAN und Kraftwerk waren und weil ich ihre elektronischen Ideen und Melodiespiele immer als sehr angenehm und aufregend empfand. 

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Nach 18 Jahren Bandgeschichte nun also das neue Album „Parastrophics“. Schon jetzt kann ich sagen, dass es wohl das elektronische Referenzwerk des Jahres 2012 für mich wird und Rival Consoles „Kid Velo“ somit ablöst. 

Bei dem visuellen Bild der Herren auf der Bühne fühle ich mich wie eine Ratte in Hameln. Angezogen von den projizierten schwarz-weiß Grafiken des Covers der wunderbaren Doppelvinylausgabe, unterlegt mit flackerndem und wirbelnden Stroboskoplicht, rappelt und deepsoundet es in meinem elektronischen Herz. 

Ich denke sofort „musikalisch nicht mehr von hier“ und finde später zum Glück ein Zitat von Jan St. Werner, der die Musik von Parastrophics besser zusammenfast: „ Ich glaube, das ist der Punkt, an dem viele Gleichzeitigkeiten, diese parallel laufenden Prozesse oder Ähnlichkeiten zu dem werden, was sie ähnlich macht und wo sie dann unvereinbar erscheinen und ungleichgewichtig werden.“ 

http://snd.sc/vH6o86 

Es bleibt schwer zu beschreiben, was es ist und wie genau diese Musik funktioniert. Eine intellektuelle Wissenschaft! Hilfreich für die unbedingte Kaufentscheidung ist vielleicht, dass die Platte keineswegs eine Wissenschaft ist, sondern frisch auf den Tanzboden schlägt. Interessant zu erfahren, dass es durchaus brachiale Deepness und gelungene Anleihen in Richtung Superstars wie JUSTICE gibt, die erfolgreicher sind, aber weniger tief und weniger rudimentär geordnete Musik machen können. Denn Mouse On Mars sind nicht nur Frickler, sondern Komponisten und musikalische Zusammensteller. 

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Zum Schluss sehe ich noch die französische Dreampopband M83. Ähnlich wie Mouse On Mars ziehen sie mich irgendwie sofort in ihren Bann. Allerdings weniger feinsinnig, sondern mehr auf die Glocke. Kurz dachte ich, Mogwai mit Synthesizern, Wall of Sound, dann hörte ich allerdings auch interessante, verfremdete Gitarrenspuren. Eine Entdeckung! 

Mike Skinner (The Streets) wollte dann um 03:00 Uhr noch ein DJ-Set aufführen. Ich wollte unbedingt tanzen und noch nicht gehen. Konnte aber nicht mehr. Zu viele schöne, abstrakte und denkwürdige Momente hatte der Tag. Kopf besiegt Tanzbein! Tanz mit dem Herzen oder geh ins Bett! 

Danke Intro

Danke Stadtarchiv

Kölle Alaaf 

Alan Lomax 

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