Beabadoobee - This Is How Tomorrow Moves (2024) Album Review

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  15. August 2024, 12:02  -  #Album Review, #Alan Lomax Blog, #Indiependentmusik

Beabadoobee - This Is How Tomorrow Moves (2024) Album Review

Gewidmet Gena Rowlands (1930 - 2024)

Es muss zwischen 2018 und 2020 gewesen sein, als sich ein übergroßer Indie-Himmel über mir eröffnete. Aus blauen Schäfchenwolken bei angenehmen 22 Grad, leichtem Wind und strahlendem Sonnenschein purzelten Bands wie Rex Orange County, Kero Kero Bonito, Soccer Mommy, Dizzy, Boy Pablo, Whitney und auch Alvvays, Real Estate, Rolling Blackouts Coastal Fever. Und dann war da noch Beabadoobee. Denn als ich Beatrice Ilejay Laus das erste Mal wahrnahm, dachte ich, es wäre eine Band. 

Inzwischen wissen wir alle, dass Beatrice Laus immer eine Solo-Künstlerin war. Zuerst hörte ich die Single „Care“ vom Album „Fake It Flowers“ – eine kleine Emo-Pop-Perle, die einem einfach nicht mehr aus dem Kopf geht.

Zu dieser Zeit von einem Durchbruch oder gar großer kommender Aufmerksamkeit zu sprechen, wäre wohl übertrieben gewesen. Doch wie es so ist, schummelte sich die Nummer immer wieder bei mir ein. Und bei einer launigen Autofahrt am Niederrhein hörte ich dann „Dye It Red“. Wir kennen diesen Moment alle: Der Kopf ist leer, das Herz ist voll, die Sehnsucht groß. Und dann spielt die Playlist zufällig diesen einen Song. „Dye It Red“ beginnt im Stil von Nirvana, entwickelt sich aber kurz vor dem ersten Refrain zu einem Befreiungsschlag der Emotionen, den es wohl nur beim Hören von unabhängiger Gitarrenmusik in solcher Wucht, Brutalität und Schönheit gibt. Beabadoobee war jetzt in meinem Lager – oder besser gesagt, ich war im Team Beabadoobee.

Dann kam die Pandemie. Kinder machten ihren Schul- und Uniabschluss, Eltern starben, Krankheiten wurden überstanden, psychologische Probleme bekämpft, neue Pläne geschmiedet und vieles überdacht. Nun, fast 5–6 Jahre später, ist die britische Sängerin Laus alias Beabadoobee immer noch da. Gerade hat sie ihr neues Album „This Is How Tomorrow Moves“ veröffentlicht, und es ist bereits ihr drittes.

Zwischenzeitlich ist die Songwriterin erwachsen geworden und hat einige Marketing-Sequenzen durchlaufen. Die Plattenfirma hat viel mit ihr ausprobiert, insbesondere bei der Suche nach der richtigen Zielgruppe. Platzierungen im asiatischen Markt funktionierten nicht richtig, trotz ihrer philippinischen Herkunft. Die Musik war inzwischen einfach zu amerikanisch. In Amerika versuchte man, sie zwischen Lana Del Rey und Taylor Swift zu platzieren, was von vornherein Unsinn war – sie ist zwar auch weiblich (das ist aber auch schon alles!), aber ihre Musik ist viel folkiger und mehr Indie-Pop. Das lässt sich jedoch nicht so gut verkaufen. Als Songwriterin stellt sie natürlich auch aktuelle Höhen und Tiefen sowie selbstkritische Überlegungen zur Schau, aber das tun andere auch.

Was macht die zierliche, sehr hübsche und lässige Beabadoobee also aus und stellt sie künstlerisch weit über ihre Kolleginnen, insbesondere über Avril Lavigne, mit der sie in der US-Presse immer wieder verglichen wird, weil man sie dort in die Grunge-Schublade steckt?

Nehmen wir uns mal den Song „Beaches“ vor. Eine softe Ballade, die zu jeder Uhrzeit in jedem amerikanischen FM-Radio Bestand haben kann und sogar unauffällig in der Morgenshow bei NDR2 gespielt werden könnte (bitte nicht, sonst tritt sie noch demnächst bei Ina Müller auf und dann war’s das). Beabadoobee erzählt in einem Interview, dass ihre Vorbilder Elliott Smith, The Cure, The Beatles und Simon & Garfunkel sind. Und hier sollten wir nicht die Aufzählung, sondern den Subtext untersuchen, denn den hören wir in diesem Song. Die vermeintliche Ballade ist in Wirklichkeit eine reinrassige Slacker-Nummer, also die Suche nach Selbstverwirklichung, die meine Generation Anfang der 90er Jahre erfunden hat. Toll, dass nun eine junge Frau mit diesen Merkmalen musikalisch, textlich und künstlerisch spielt und dann einen vermeintlich alten weißen Mann damit erreicht, der dabei war, als diese Haltung aus einer Punk-Haltung heraus entstand – eine Haltung, die uns aber immer zu viel war. An dieser Stelle kann dann auch direkt der Marketingabteilung der Plattenfirma gesagt werden, wo ihre Zielgruppe sitzt und wie sie sich zusammensetzt: Platten- und Musiknerds, Jahrgänge 1969–1975, popkulturell interessiert, gehobene Kaufkraft, männlich, hoher Bildungsgrad, verheiratet, durchschnittlich zwei Komma zwei Kinder.

Diese Zielgruppe ist übrigens keine Boomer-Zielgruppe, denn die endet mit dem Jahrgang 1965. Glück gehabt. Wir jungen und normalen Menschen, die früher mal Slacker waren, mögen Beabadoobee. Ebenso wie viele andere auf dieser Welt, die sich nicht kategorisieren lassen.

Nach der Ballade für Erwerbsjugendliche kommt der Song „Everything I Want“. Dazu fällt mir ein, dass ich am 27. November 2024 nicht zum Konzert in Köln gehen kann. Auch wenn ich Zeit hätte, ich kann nicht! Der Grund ist einfach: Stellen Sie sich vor, ich stehe mit 2.000 anderen Männern in meinem Alter wippend vor der Bühne, gedenke meinem ehemaligen Slackertum und starre die hübsche Frau an, die diesen wundervollen Song singt. Ich habe die Augen geschlossen, singe mit und denke an den Film „About a Boy“ – natürlich an Will Freeman (Hugh Grant), einem der größten Slacker-Vorbilder der Geschichte des Slackertums. Aber auch an seine Aussage, dass es wohl kaum etwas Peinlicheres gibt, als „Killing Me Softly with His Song“ mit geschlossenen Augen zu singen. Und Freeman kennt sich aus mit Popkultur, denn Nick Hornby hat ihn erfunden. Auch Beabadoobee hat Hornby gelesen, und Hornby mag Beabadoobee und könnte das hier alles viel besser erklären als ich.

Und dann ist da „This Is How It Went“:

I turned off the TV and I laid in my bed
Sat and thought blissfully listening to Elliott
Writing songs, he did the same about situations
Would've been just the same, you had to make it obvious

Sie kennen das Werk von Elliott Smith nicht? Dann macht das hier alles keinen Sinn! Für die anderen: Ist es nicht großartig, dass sie über und für Elliott singt? Abgesehen davon, dass er das wirklich verdient hat – es wurde Zeit, dass nach Ben Folds’ „Late“ jemand diese Vibes, diesen Rhythmus und diese Tonalität aufgreift und uns wieder ins Bewusstsein ruft, wie notwendig es ist, Poeten wie Smith und Jeff Buckley zuzuhören, um zu entscheiden, wie das eigene Leben verlaufen soll.

Ich empfehle, bei dieser Künstlerin genau hinzuhören und erst einmal darüber hinwegzuhören, dass ihre Musik oft im musikalischen Gewand des Mainstreams der frühen 2000er daherkommt. Beabadoobee ist eine erwachsene, kluge und total nachvollziehbare zeitgemäße Musikerin aus dem Untergrund. Sie hat die Gabe oder das Attribut, massentauglich und konsensfähig zu sein – etwas, das viele andere Künstler, Künstlerinnen und Bands nicht verkraftet haben. Einige jedoch schon, wie etwa The National, The Killers, Lana Del Rey, Depeche Mode, Nick Cave. Mal sehen, wo es die Britin Laus hinverschlägt.

Auch wenn ich als Schreiber und Radiomacher häufig selbst kategorisiere, sollten wir aufhören, bei der Popkultur in Kategorien zu denken. Kunst benötigt Freiheit – beim Kunstmachen, beim Kunstkonsum und beim Zelebrieren. Beabadoobee ist ein zeitgemäßes Paradebeispiel für Rollen- und Altersfreiheit. Junge Mädchen, alte Männer und Frauen, jeder und jede darf und kann diese Musik hören und wird sich irgendwo abgeholt fühlen. Im Subtext betrifft das auch, was ich kürzlich in Porto beim Primavera Sound erlebt habe oder das, was uns das wundervolle Haldern Pop Festival am Niederrhein jedes Jahr wieder vorhält und letztendlich auch die großen Bands und Produktionen wie The National, The Killers, Depeche Mode, Lana Del Rey oder Nick Cave und viele mehr! Es gibt keine Grenzen mehr. In Haldern spielen Fat Dog neben Anna Ternheim. Zwanzigjährige tanzen erst und bewundern dann die Songwriter-Tiefe der Schwedin. In Porto feiern Teenager Lana Del Rey, während alte Männer und Frauen bei „Summertime Sadness“ weinen. Zusammen tanzen alle im Sonnenschein zur unglaublichen kalifornischen Indie-Hoffnung CRUMB, während bei The National wieder jeder – egal, woher, wie alt, wie gebildet oder eingestellt – alleine zu Songs wie „Mistaken for Strangers“ oder „Karen“ steht und bleiben will..

 

Denn das ist das Phänomen, das am Ende bleibt: Wird ein musikalischer Akt groß und spielt auf den ganz großen Bühnen, müssen wir ihn loslassen und ziehen lassen. Dem Geheimrezept, der Zauberformel sind dann Millionen von anderen Menschen auf die Spur gekommen. Aber dennoch denken diejenigen, die diese Musiker zuerst ins Herz geschlossen haben, immer: Die gehören mir. Und das ist ein wunderbares Gefühl. Wenn einem solche große Kunst ganz alleine gehört. Wir teilen sie zwar, aber die Songs sind so tief und wahrhaftig in unseren Herzen verankert, dass niemand außer uns selbst daran kommt. Beabadoobee hat das bei mir längst erreicht. Und fuck... ich stelle mich auch gerne unter 2.000 andere, weine und umarme diese wundervolle Musik.

 

Aus dem Keller der Gefühle, der voller Reserven ist,
Alan Lomax

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