Der schlimmste Mensch der Welt (2021) – Joachim Trier

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  23. Mai 2024, 14:24  -  #Filmkritik, #Joachim Trier

Foto: © Oslo Pictures

Foto: © Oslo Pictures

Zugegeben, beim europäischen Film hänge ich immer etwas hinterher. Als amerikanophiler Cineast sind Filmemacher und Autoren aus dem guten alten Europa eher spärlich in meinem Kosmos vertreten. Was zweifelsfrei ein Fehler ist, wie das Beispiel des norwegischen Regisseurs Joachim Trier zeigt.

Joachim Trier ist ein herausragender norwegischer Filmemacher, den ich erst vor einigen Monaten entdeckt habe, der aber bereits seit Jahren grandiose Filme dreht. Trier ist tiefgründig, feinfühlig und oft introspektiv. Geboren 1974 in Kopenhagen, Dänemark, wuchs er in Norwegen auf und stammt aus einer filmbegeisterten Familie, was seinen Werdegang sicherlich beeinflusst hat. Sein Durchbruch gelang ihm 2006 mit dem Film „Reprise“, der vielfach ausgezeichnet wurde und die Geschichte zweier junger Schriftsteller erzählt, die mit Erfolg und Scheitern kämpfen. Seine Werke sind oft von einer melancholischen, aber dennoch hoffnungsvollen Atmosphäre geprägt, was ihn zu einem faszinierenden Erzähler menschlicher Schicksale macht.

Von der ersten Sequenz „Thelma“, die ich in einem Trier-Film gesehen habe, war mir der Verve und der Aspekt, dass er François Truffaut als Vorbild hat, sympathisch. Einfühlsam, oft autobiographisch, authentisch, komplexe dramatische bis hin zur Komödie dargestellte zwischenmenschliche Beziehungen. Zudem zieht sich in seinem Filmstil eine Art moderne Nouvelle Vague-Ästhetik durch seine freien, immer auch vom Experiment geprägten Filme. „Eine Art“ bedeutet aus meiner Perspektive, dass eine Nouvelle Vague in Skandinavien (wo die Geschichten spielen) eigentlich nicht möglich ist, aufgrund des rustikaleren Charakters der Szenerie und Menschen.

Besonders hervorzuheben sind seine Filme „Oslo, 31. August“ (2011) und „Thelma“ (2017). „Oslo, 31. August“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der einen Tag in Oslo verbringt, nachdem er eine Drogenrehabilitation durchlaufen hat. Der Film ist eine bewegende Meditation über Verlust und Neuanfang. „Thelma“ hingegen ist ein spannender Thriller mit übernatürlichen Elementen, der die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die entdeckt, dass sie gefährliche Kräfte besitzt.

Sein bisheriges Meisterwerk aber ist „Der schlimmste Mensch der Welt“. Joachim Trier ist ein Meister darin, emotionale Tiefe und visuelle Poesie zu verbinden. Auch wenn das amerikanische Kino eine große Vielfalt und Qualität bietet, so eröffnet der Blick auf internationale Regisseure wie Trier neue Horizonte und bereichert das eigene filmische Erlebnis. Seine Filme sind nicht nur eine Hommage an die menschliche Erfahrung, sondern auch eine wunderbare Erweiterung des cineastischen Spektrums, das man nicht verpassen sollte.

Die Geschichte dreht sich um Julie, eine junge Frau in ihren späten Zwanzigern, die mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung kämpft. Über einen Zeitraum von vier Jahren begleitet der Film Julie auf ihrer Reise, während sie verschiedene Beziehungen und berufliche Wege erkundet. Julie ist hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen Lebensentscheidungen und kämpft mit dem Druck, die „richtigen“ Entscheidungen zu treffen. Der Film zeichnet ein nuanciertes Porträt einer Generation, die zwischen Freiheit und Verantwortung balanciert. Mit einer Mischung aus Humor, Melancholie und Ehrlichkeit untersucht Trier Themen wie Liebe, Identität und das Streben nach Erfüllung.

Der Film ist in 12 Kapitel, einem Prolog und einem Epilog unterteilt und hat einen unglaublichen, dauerhaften positiven Flow. Eine echte Bereicherung meiner eigenen filmischen Erlebnisse. Dabei geht Trier tief mit seiner Heldin ins Gericht und überlässt es jedem Zuschauer selbst, ob die sympathische Julie (Renate Reinsve) eine Heldin ist oder eher eine Frau mit ausgeprägten narzisstischen Tendenzen, die manipulativ und selbstzentriert ist.

Wir erleben sie in zwei wesentlichen Beziehungen. Einmal die mit Aksel (Anders Danielsen Lie), einem bekannten Osloer Comiczeichner, der ihr später im Film seine echte Liebe bekundet. Er leidet jedoch unter ihrer Realitätsverdrehung in der früheren Beziehung, die ihn bei wichtigen Lebensfragen destabilisiert hat, aber auch wieder abhängig gemacht hat. Trier dreht hier das Thema „Gaslighting“ um, welches jahrzehntelang im Film und somit in der populären Vorstellung, dass es Narzissmus ein männliches Phänomen ist.

Die zweite poetische, scheinbar glücklichere Beziehung mit Eivind (Herbert Nordrum) hält dann den großen szenischen und visuellen Höhepunkt des Films bereit. Als Julie feststellt, dass sie sich neu verliebt hat, friert die Zeit ein. Nur Julie und Eivind bewegen sich noch. Sie treten aus ihrem eigenen Leben heraus, um sich fremd zu werden bzw. um fremdzugehen. Dies passiert ausgerechnet, als Julie sich entschlossen hat, ihre Beziehung mit dem Comiczeichner aufzugeben, und zwar aus abwertenden und idealisierten Gründen. Denn sie kritisiert ihn wegen seiner Kunst, obwohl sie diese zu Beginn noch idealisiert hat und somit beide in ein emotionales Hoch versetzt hat. Aksel hat es ohnehin schwer, da er in seiner ständigen Erwartungshaltung gefangen ist, was ihm sicherlich von allen Zuschauern zugestanden wird. Wie gesagt, Trier lässt hier jedem Filmfreund seine eigene Entscheidung.

Aber es gibt für niemanden – weder für Aksel noch für Eivind, weder für die Zuschauer noch für Julie – eine Heilung. Spoiler: Der eine stirbt, der andere kehrt zu seiner verlassenen Freundin zurück und gründet eine Familie.

Im Epilog sehen wir Julie in einem offensichtlich selbstbestimmten Leben als Fotografin. Am Set eines Films fotografiert sie eine Schauspielerin, die gerade eine Trennungsszene gespielt hat. „Mehr traurig sein“, hat ihr der Regisseur vorher zugerufen. Wieder eine männlich dominierte Welt, in der der Mann sich von der Frau trennt, die Frau die Leidende ist, aber wahrscheinlich keine narzisstischen Tendenzen hatte. Denn die negative Superpower, haben Frauen erst im Rahmen der Emanzipation erhalten, nämlich die Fähigkeit, ihre männlichen Partner zu dauerhaften Opfern zu machen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Dieser Film ist genau aus diesem Grund mutig. Folgende Sequenz belegt meine Theorie, da Trier seine Protagonisten frühzeitig in Schutz nimmt um die vermeidlich richtige Theorie für ihren Narzissmus als Frau, aufgeschlüsselt von einem männlichen Blogger in Schutz zu nehmen:  Julie stellt bei einem Abendessen mit Aksel selbst fest, dass Männer immer alles hochstilisieren und zu ihrem eigenen machen. „Hättet ihr die Periode, würdet ihr jeden Tag darüber sprechen!“.

Und somit ist der Film auch ein Meisterwerk des Moments, weil Trier ein prägnantes Porträt der gegenwärtigen Zeit zeichnet. Dabei holt er nie die moralische Keule heraus, sondern stellt uns ein Narrativ zur Verfügung, das hintergründig ist und sich mit den Problemen der sich neu andeutenden oder bereits gelebten Selbstfindungsprozesse beschäftigt. Damit leitet er keine Unterschiede zwischen Mann und Frau ab, sondern zielt bewusst auf die Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Menschen ab und stellt seine Figuren sehr eindrücklich dar.

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