So war das SWANS Konzert in der Christuskirche Bochum am 18. November 2023  

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  20. November 2023, 13:17  -  #Michael Gira, #Swans, #Bochum, #Christuskirche, #Noise, #Swans Konzertkritik

Fotos by Alan Lomax FoundationFotos by Alan Lomax Foundation
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Fotos by Alan Lomax Foundation

Sie kennen dieses dramaturgische Element, welches meist von schwachen Regisseuren eingesetzt wird, um dem Narrativ der Geschichte zu entsprechen: Ältere Damen geht am Abend mit ihrem Hund spazieren. Vorerst scheint alles so zu sein wie jeden Abend. Schwenk von oben über die alte Christuskirche in Bochum. Jedoch scheint auf einmal die Hölle auszubrechen. Ein geschrienes JaJaaaaJaaaaaHaDeia (15x wiederholt) durchbricht die ruhige Nacht. Nachdem eine Snaredrum einsetzt und Maschinengewehrslaven von sich gibt, bevor ein sich moderndes, krachendes Loop aus zahlreichen Geräuschen um einen Radius von mindestens 500 m der Kirche legt. Die alte Dame könnte denken, dass in der Kirche eine rituale Messe abgehalten wird. Teufelsbeschwörung oder ähnliches. Aber vor der Tür steht ein Mann des  Ordnungsamts Bochum. Scheinbar alles in Ordnung, denkt die alte Dame und geht ihren Weg. Während sich die Kamera langsam, schwebend ins Innere der Kirche bewegt. Vorbei an meist schwarz gekleideten Menschen die im Vorraum T-Shirts und Schallplatten kaufen, hinein in den Konzertraum, der als Gemeindesaal von Dieter Oesterlen konzipiert wurde. Visionär kann genannt werden, denn die Formsprache bzw. das Framing des Raumes ist dreiflügelig wie ein Triptychon. Sonst nur ein karges Kreuz und eine warme rote Beleuchtung. Davor ein Band Line-Up, welches überhaupt nicht deplatziert wirkt, sondern im Einklang mit Oesterlens Architekturgedanken der Selbstverständlichkeit, einen gewissen Freiheitsgedanken und Umdenken bei jedem Besucher einen Sinn ergeben könnt.

Aber Ruhe, Besinnung und Konzentration auf das Wesentliche, ist nicht die Idee von Michael Gira, dem Kopf der Band SWANS. Seine Kunst und Musik fordert das Erträgliche heraus und bietet dem Zuhörer eine Grenzerfahrung an. 

Frühere industriell geneigte Bands waren auch audio-visuell provokant. So projizierte die Gruppe Laibach zum Beispiel einen Pornofilm und das Bild des zuvor gestorbenen jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Titu übereinander. Verstörung und Auslösung von unbekannten Prozessen des Zuhörers waren der Sinn. Die Geschichte dieser Musik ist lang und facettenreich und eigentlich gehören die SWANS auch gar nicht so richtig dazu. Denn, interessanter Weise, sind viele frühere Bands und auch deren Einfluss auf andere Subkulturen nun mit dem elektronischen Bereich verwoben. 

Die SWANS gibt es bereits seit 1982. Bekannt geworden sind sie mit einem der besten Coverversionen von Love Will Tear Us Apart. Das ist kein Zufall, denn Joy Divison und die Swans sind von der Attitüde und dem Anspruch etwas neues zu machen, aber auch ein damaliges anderes Erscheinungsbild zu haben, als historisch sehr ähnlich zu verstehen. Ian Curtis war stets gut gekleidet und entsprach überhaupt nicht dem Bild der Punks die zu Anfang seine Konzerte besuchten. Auch der Amerikaner Michael Gira sah zwischen 1982-1988 ehr aus wie ein Pop-Dandy mit Hörschaden. Das Erscheinungsbild beider Bands zu vergleichen und sich einmal anzusehen, ist sehr interessant. Das aber nur wirklich nebenbei erwähnt.

Im Jahr 2024 ist die Band bei schwarz geblieben. Gira formt wie gewohnt zwei Musikerkreise um sich herum: Auf der einen Seite die Tonabteilung: Dana Schlechter, Kristof Hahn und Larry Mullins, auf der anderen Seite die Rhythmusabteilung: Christopher Pravdica und Phil Puleo. 

In der Mitte Onkel Gira der weint, schreit, singt, gestikuliert, meckert und unaufhörlich Spannung aufbaut. 

Den Prolog hat Norman Westberg (im blauen Licht) gespielt. Westberg ist ein langjähriges Mitglied des Swans Kollektiv, spielt aber im eigentlich Set nicht mit. Derweilen koppelt er seine Gitarre mit einigen anlogen Synthesizern und produziert wundervolle Ambientklänge die sich so mancher Besucher später noch wieder zurückwünschen wird. Denn die Schreie und die Geräuschkulisse der Schwäne wird unerträglicher und unerträglicher werden. Das Wort laut bekommt eine neue Bedeutung. Spätestens dann, wenn der Schrecken zum Ende noch unerträglicher wird, weil Giras Stimme in Millionen von zersplitterten Delay Sound zerlegt wird und das Echo nicht nur aus der mitgebrachten PA schreckt, sondern auch aus dem Beton der Kirche zurückkommt und es wirklich so unerträglich wird, dass auch die letzen sich die Ohren zu halten oder mit irgendwas zustopfen.

Nach zwei Stunden geht es langsam zu ende. Aber Michael Gira ist achtsam. Natürlich hält er sich ehr an die neueren drei Alben, eine Werksdarstellung gibt es nicht und somit auch keine Klassiker aus der Noise Zeit oder eben der Avantgarde Industriell Zeit. Gira ist immer in der Gegenwart. Sogar spontan. Denn am Anfang des Sets, löst er die Steifheit der Sitzreihen auf. Stolpert wie eine wild gewordene Hyäne durch die Kirchenmöbel und fordert das Publikum ,mit einem Glockenseil, auf nach vorne zu kommen. Eine kluge Entscheidung, denn so löste sich die recht Steife und angespannte Stimmung von Anfang an auf. Zuschauer die dann vorne standen, blieben auch und glaubt mir, ich habe es gesehen, sie sind jünger geworden, wenn sie es nicht schon waren. Erstaunlich überhaupt die Alterssegemente bei diesem Konzert, welches ja sonst ehr von den berühmten alten weissen Männer durchsetzt ist. In Bochum habe ich viele junge gesehen und wirklich toll, auch sehr sehr viele junge weibliche Zuhörer die deutlich unter 30 Jahre alt waren. Es besteht also Hoffnung, dass Gira oftmals erwähnte sterbende Existenz und Sterblichkeit zur Achtsamkeit der Menschen wird. 

Währenddessen setzt sich der Schrei, der Krach, die Echos und das Spektakel fort. Der Song "The Memorious" bleibt furchterregend. Der ständig wiederkehrende Sample des wahnsinnigen Kinderlachens ist unerträglich und erdrückend, macht jedoch ebenso süchtig. Die Seite "Louder than War" hat das als "autoerotische Erstickung" beschrieben. Ich empfinde einen höllischen Rausch.

Irgendwann gegen Ende wird klar, dass dies schon lange kein Konzert mehr ist. Es ist Kunst und eine Erfahrung. heilig, tantrisch, esoterisch, unerträglich, wirklich nicht schön oder unterhaltsam, sondern dem Ort angemessen göttlich.

Und es gibt nur eine Möglichkeit der eigenen Aufnahme: Hingabe und Konzentration. Die Kunst der Swans ist im besten Fall Befreiung, im schlimmsten Fall ein bedrohliches Anklopfen an die eigene Existenz. Deshalb überlegen Sie sehr genau, ob Sie sich dem bei der nächsten Gelegenheit hingeben wollen. Es hängt stark von Ihrer eigenen Verfassung ab, ob Sie selbst diese Auseinandersetzung wollen oder nicht.

No Dream, No Sleep, No Suffer.

Die Kamera zieht sich zurück. Das Konzert ist zu Ende. Niemand ruft nach einer Zugabe. Nach fast drei Stunden sind alle zerstört. Die Swans sind auch körperlich, und wirklich jeder Zuschauer muss sich fragen und damit auseinandersetzen, wie weit er das alles an sich heranlassen will.

Die Untertitel laufen, die Kamera befindet sich im Flugmodus. Sie umrundet den Kirchturm und endet schließlich mit einer Totalen auf Bochum. Wir sehen die kleinen Lichter in all den Wohnungen. Irgendwo liegt auch die alte Dame und schläft. Ihr Spaziergang war an diesem Abend anders als sonst. Aber auch schnell vergessen. Wir alle haben die Wahl, den seelischen Schmerz zu gestatten oder nicht. Verlust und Verzweiflung allerdings können wir uns nicht aussuchen. Unsere Lieblingsbands oft auch nicht.

Aus einem Menschenschädel Tee trinkend (Jürgen Ziemer, RS, 23.06.2023)

Alan Lomax

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