Erinnerungen an die Zukunft: Vangelis
Mir fehlte der entscheidende link.
Gestern in einem privaten Chat löste „Freund, Kompagnon und Mitstreiter“ Alan Lomax den Knoten:
Unsere Helden haben uns mehr geprägt als alle anderen Mitmenschen in unserem Leben!
Diese im Kern klare und wahre Aussage hat mich von einigen Missstimmungen erlöst und ich bin Mr. Lomax dankbar. Manchmal fehlt der letzte Baustein.
Gut, wenn man Freunde hat.
Ausgehend von dieser Prämisse schmerzt es umso mehr, wenn unsere Helden uns ins Nirwana entschwinden, es ist, als würde einem ein Stück aus der Seele gerissen.
Das mag sich pathetisch anhören, ist es aber nicht und zwar aus folgendem Grund: Vangelis hat mich wiederholt der Realität entrissen und mich in eine schönere Welt geführt, eine voller Mystik, Geheimnisse, Farben. Er erreichte das mit den Mitteln der Musik.
Dieser Eskapismus war – und ist weiterhin – notwendig und wenn es keinen mehr gibt, der das wahrhaftig kann, dann fehlt einem etwas.
Sie, die Sie unseren Blog regelmäßig lesen, Lomax hatte das in dem vorherigen Artikel bereits angedeutet, wundern sich vielleicht, warum wir so viele Helden haben und so viele Menschen verehren, warum uns so viele Menschen aus Kunst, Musik, Theater, Kino, Fernsehen so viel bedeuten?
In der Rezeption von Kunst hat jeder seine eigene Herangehensweise, die bestimmt wird von der Kindheit, dem Elternhaus, der Sozialisation in der familiären und nicht-familiären Umwelt, aber auch von den eigenen Genen und Verhaltensweisen.
Ich zum Beispiel wurde seit der frühesten Kindheit (unter anderem) durch das Kino sozialisiert, durch Walt Disneys SCHNEEWITTCHEN UND DIE 7 ZWERGE und Howard Hawks’ HATARI. Es war ein magischer Moment, wenn sie als 6-jähriger John Wayne auf der großen Leinwand im Jeep beobachten, wie er zu der (sensationellen) Musik von Hank Mancini auf Nashorn-Jagd geht. Das prägt sich ins Unterbewusstsein. Für immer!
Sozialisiert wurde ich später durch die Klassik, Bach, Mozart, Chopin und vor allem „Ludwig van“. Parallel dazu entdeckte ich Hollywoods Goldene Ära mit Max Steiner, Erich Wolfgang Korngold, Franz Waxman. Die Klassik, die klassische orchestrale Filmmusik war, ist mein Universum.
Eines Tages erschien Ridley Scott am Rande dieses Universums und mit ihm ein ALIEN, ein unheimliches Wesen aus einer fremden Welt. Eines der Meisterwerke der Neuzeit! Jerry Goldsmith lieferte eine großartige Filmmusik. Meine filmmusikalische Welt war noch in ihren Fugen, geriet noch nicht ins Wanken.
Einige Jahre später erschien Ridley Scott erneut auf der Bildfläche und brachte mein altes cineastisches und musikalisches Universum erst zum im- später zum explodieren.
Mit BLADE RUNNER lieferte er einen Film, der in seiner Wirkung bis heute nachhallt und der - nach sehr langer reiflicher Überlegung in den letzten Jahren - für mich zum Kunstwerk avancierte, nicht zum einen der besten, sondern zum BESTEN FILM aller Zeiten. Ersetzen sie „zum besten“ mit jedem anderen positiven Attribut, welches Ihnen einfallen mag. Warum, das erzähle ich bald auf diesem Blog.
Es geschah aber etwas anderes, etwas geheimnisvolles, was ebenso bedeutend war: Vangelis’ rein elektronische Filmmusik verzauberte mich, führte mir die Schönheit nicht orchestraler Klänge vor Augen (und Ohren) und er entführte mich in eine Welt, in die ich seitdem immer wieder gerne zurückkehre: Die Welt hinter der, neben der Realität.
Sein Score zu BLADE RUNNER, und das überraschte mich, hatte transzendentalen Charakter, eine Fähigkeit, die ich sonst nur sehr wenigen Komponisten zuschrieb, zuschreibe. Bernard Herrmann erreichte das mit seinen bahnbrechenden Filmmusiken zu PSYCHO und VERTIGO, John Williams mit seinem Meistwerk THE EMPIRE STRIKES BACK und Jerry Goldsmith mit THE WIND AND THE LION.
Vangelis sah in der elektronischen Musik ein weitaus größeres Potential. Nicht umsonst gilt er als einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Während ein klassisches Instrument nur einen „einzigen“ Ton hervorzubringen vermag, mit seiner eigenen Klangfarbe, seinem unverwechselbaren Klang, so kann es eben der elektronischen Musik gelingen, nur diesen einen Ton so zu verändern, zu ändern, zu verfremden, dass ganze Klagwelten entstehen können:
“People say that a synthesizer is a machine, not a natural sound. Everything is natural. The first instrument built – a flute or maybe a tom-tom – was a machine to create sound. Acoustical conventional instruments, like a guitar, are fantastic, but they are restricted and always give the same sort of sound. It allows us to go beyond what we have known. You can start from a beep, and develop a whole range of sounds with endless variations. It is incredible.”
(Interview Auszug aus dem Nachruf von Jon Burlingame aus VARIETY).
Es sind dies die ganz besonderen, die magischen Momente im Leben eines jeden Menschen, der sich wahrhaftig für Musik interessiert: Nach dem ich BLADE RUNNER zum ersten Mal sah, war ich beeindruckt und konsterniert zugleich. Später erfuhr ich dann von den Zwängen, denen Scott bei der Realisierung des Stoffes ausgesetzt war, vom Druck des Studios, dass das Ende so gar nicht beabsichtigt war. Das erklärte vieles. Trotzdem – bis zum Final Cut – war ich von der Welt, die Scott in BLADE RUNNER erschuf sofasziniert, bewegt und hingerissen, dass ich sie wieder und wieder sehen, entdecken, erleben wollte.
Zu der Zeit gab es kein Internet, keine Möglichkeit zu „streamen“, es war die Ära der Videokassetten, die Technik war nicht so weit fortgeschritten wie heute. Man musste sich folglich einen Videofilm ausleihen, den Film selbst vom Fernseher aufnehmen und natürlich einen Videorekorder besitzen, der nicht günstig war. Damals war nicht alles zu jeder Zeit überall verfügbar, was den Wert der Kunst – berechtigterweise – erhöhte.
Ich tat das Gleiche wie bei LAWRENCE OF ARABIA, ich kaufte den Score, verdunkelte mein Zimmer, nachts, nachdem alle schlafen waren, legte die CD in den Player und was ich dann zu hören bekam, schlug fast alles an Intensität, Emotionen, Bildern, was ich bisher kannte.
I’ve heard things you people wouldn’t believe ... um den Schlussmonolog von Ruter Hauer zu variieren.
Menschen wie Vangelis werden deswegen zu Helden, weil sie es vermögen mit ihrer Kunst andere, künstliche Realitäten zu erschaffen, in denen man sich gerne aufhält, in denen man sich immer wieder umsehen kann, sie einem Trost spenden, man in diesen Welten auf Resonanz stößt.
Anders gesagt: Unsere Helden zeigen uns, wie schön die Dinge sind. Sie vermitteln Ästhetik, sie verursachen Gänsehaut, sie geben uns das, was die Realität niemals könnte: Träume.
Nicht von ungefähr nannte der Autor von BLADE RUNNER, der geniale Philipp K. Dick, sein Buch:
Do Robots Dream Of Electric Sheep?
Lesen Sie in diesem Zusammenhang bitte auch den vorhergehenden Beitrag von Alan Lomax! Ob Cameron Crowe mit Vanilla Sky oder Morpheus mit der roten oder blauen Pille: Ich bin lieber im Wunderland.
Die Eröffnung von BLADE RUNNER ist unbeschreiblich! Es ist dunkel. Es ist unwirtlich. Es ist düster. Es ist kalt. Wenn der Raumgleiter über Los Angeles fliegt und die ersten Töne von Vangelis erklingen, ist man angekommen: In der fernen Zukunft (damals, heute fast real). Bilder und Musik gehen fortan eine kongeniale Symbiose ein und es ist Ridley Scott zu verdanken, dass er sich dabei bewusst für Vangelis entschied!
Das „Love Theme“, was Vangelis, unter anderen, für den Film komponierte ist von einer unbeschreiblichen Schönheit, Laszivität, Eleganz, von Melancholie und Zeitlosigkeit. Wie er darin Instrumente miteinander verbindet, wie er Gefühle mit den Mitteln der Musik transportiert und es schafft uns Zuschauer (und Hörer) zeitglich in der Zukunft zu verorten, das ist phänomenal.
Ich war überwältigt, wie ausdrucksstark, wie effizient, aber auch wie beeinflussend elektronische Musik sein kann. Nur einige Jahre, bevor ich BLADE RUNNER das erste Mal sah, entdeckte ich meine Liebe zur „elektronischen“ Musik bei anderen Musikern: DEPECHE MODE.
Martin L. Gore wurde zur persönlichen Legende. Umso trauriger zu lesen, dass Andrew Fletcher von uns gegangen ist. Ich muss es zugeben: Seine Art zu „performen“, seine Brille, seine Haltung, seine Kleidung ... ich wollte so sein, wie er. Sie sehen: Es sind unsere Vorbilder und Helden.
Ich werden Vangelis zeitlebens mit BLADE RUNNER in Verbindung bringen und mit einem der schönsten, persönlichsten Kinoerlebnisse. Er hat mit seiner Musik mein Leben bereichert, auch meine Einstellung zu elektronischer Musik geändert. Ein wahrer Künstler.
Wenn wir um unsere Helden trauern, dann nicht nur, weil sie von uns gegangen sind, sondern auch aus einem anderen Grund: Wir sehen in weiter Ferne keinen, der das, was sie entwickelten, ihre Pionierleistungen, ihre Errungenschaften mit gleichem Talent (!) weiterentwickelt, sich Künstler die Hände geben und einen evolutionären Prozess in Gang setzen. Das ist das, was einen betrübt. Martin Scorsese hatte das einmal unnachahmlich erklärt.
Die Kunst, die Musik, die populäre Kultur entwickeln sich weiter, das ist das Rad der Zeit, aber beurteilen sie selbst wohin ... .
Es regnet in Strömen. Harrison Ford ist sprach- und fassungslos. Er hörte gerade einen Monolog, der ihn nachdenklich stimmt.
Das Ende von BLADE RUNNER ist einer der magischsten, schönsten, eindrucksvollsten und bewegendsten Momente der Filmgeschichte.
Vangelis war einer der Menschen, die diese Momente mit erschufen.
Für die Ewigkeit.
„And all those moments will be lost in time, like, tears in rain. Time to die.“
R. I. P. Mr. Evangelos Odysseas Papathanassiou.
EFCHARISTÓ!
Rick Deckard