House Of Gucci - Ridley Scott
Zu Beginn sitzt Maurizio Gucci vor einem italienischen Café, geniesst seinen Espresso, raucht eine Zigarette und fährt anschließend mit einem Fahrrad zu seinem Stadtdomizil. Der Film endet genau so, wie er begonnen hat und als Zuschauer erfahren wir, was in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren dazwischen passiert, bevor der Kreis an den Anfang zurückkehrt.
Ridley Scott's neuester Film HOUSE OF GUCCI ist nicht nur ein Kriminalfilm, er ist eine Familiensaga, ein Drama, eine hervorragend erzählte Geschichte über Verlangen, Gier, über den Wunsch nach sozialem "Aufstieg". Er ist aber auch und vor allem ein eindringlicher Film über die Macht des Schicksals. Schicksal ist unausweichlich.
Wenn man sich Medienlandschaft näher betrachtet, das Boulevard, das Internet, so prägen die "Reichen und Berühmten" die Seiten. Wohin das Auge blickt, gibt es Glamour, Stars, Luxus. Das Verlangen etwas besonderes zu sein, jemand zu sein, geht in der Moderne sogar soweit, als das junge Menschen sich als Influencer mit teuren Produkten, Luxusartikeln vermarkten lassen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das Verlangen Teil dieser glamourösen Welt zu sein, hat jeder Menschen mindestens einmal im Leben verspürt. Es ist ein natürliches Bedürfnis.
Ein solches Verlangen verspürt auch die aus normalen Verhältnissen stammende Patrizia Reggiani, die auf einer Party zufällig Maurizio Gucci - Sohn von Rodolfo Gucci, der zusammen mit seinem Bruder Aldo das berühmte Gucci Label zu einem Imperium aufgebaut hat - kennenlernt. Nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung stellt sie ihm nach und wickelt ihn gekonnt um den Finger. Rodolfo ist gegen die Liaison, die Beziehung seines Sohnes entzweit Vater und Sohn und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Was nach einer Soap Opera klingt, ist klassisches Kino alter Schule, par excellence und mit Grandeur inszeniert.
Die erste Hälfte des Films lässt einen Filmliebhaber nahezu in jeder Szene das Herz aufgehen. Die Einleitung ist perfekt, die Auswahl der Songs für jeden Popmusik-Fan eine Offenbarung, der Schnitt, das Timing, die Dramaturgie, die Ausstattung: Großes Kino! Wenn dann auch noch Schwergewichte wie Jeremy Irons und Al Pacino (Legend!) die Bühne betreten, dann geht nicht nur das Herz auf, es wird einem auch ganz schwer ums Herz ... .
Was für eine Freude S c h a u s p i e l e r auf der großen Leinwand zu sehen!
Sie beherrschen die Szene nur mit ihrer Präsenz. In der zweiten Hälfte hält der Film sein Niveau, er bekommt nur eine andere Färbung, wird düsterer, abgründiger, die Leichtigkeit verfliegt und die Schwere dominiert. Als Zuschauer ist man bei HOUSE OF GUCCI lediglich Beobachter eines nicht abzuwendenden Schicksals. Es gibt keine Charaktere, mit denen man sympathisiert, keine Helden, keine Bösewichte, nur Menschen mit all ihren Verfehlungen, die einander bedingen.
158 Minuten blendend und kurzweilig zu unterhalten, in einem Film nur auf Dialogen ruhend, das können nur die ganz Großen dieser Zunft und Ridley Scott ist einer von Ihnen. HOUSE OF GUCCI ist elegantes, episches, vintage Cinema. Ich fühlte mich in das vergangene Jahrhundert versetzt, in das Golden Age von Hollywood, in das Kino der 50er Jahre.
Der britische Meisterregisseur ist 84 Jahre alt. Es ist unglaublich, über welche Energie er verfügt! Einen Film dieser Länge zu realisieren, Regie zu führen, zu produzieren und entgegen aller aktuellen Strömungen in die Kinos zu bringen: Wir Zuschauer sehen "nur" das Endprodukt, aber die Realisation von der ersten Drehbuchsichtung bis hin zum fertigen Schnitt, das ist ein künstlerischer Kraftakt sondergleichen.
Respekt!
Eine solche Leistung kann man nur vollbringen, wenn man das Kino und seinen Beruf leidenschaftlich liebt und deswegen lieben wir unsere Helden. Clint Eastwood ist über 90 Jahre und dreht (CRY MACHO), Steven Spielberg über 70 und dreht (WEST SIDE STORY), Scorsese, über 70, drehte jüngst (THE IRISHMAN). Der Grund, warum ich diese Namen aufliste ist der, dass mit diesen Namen stets eine hohe künstlerische Qualität verbunden ist, eine Verknüpfung zur Kunst, es sind Namen die man noch vor dem Titel des Films erwähnt:
"Hast Du schon den neuesten Ridley Scott gesehen?"
Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das es so bald nicht mehr geben wird.
Aus Mailand,
Rick Deckard