Meine Klavierlehrerin oder Alan Lomax? Erinnerungen an Chick Corea.
Return To Forever.
Bis es soweit ist, würde ich gerne eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit unternehmen.
Im Jugendlichenalter lernte ich Klavier zu spielen. Nicht aus eigener Motivation, sondern motiviert durch meine Eltern. Wer hat diesen Satz nicht gehört:"Du musst ein Instrument spielen!". Seit dieser Zeit liebe ich dieses Instrument und seine Möglichkeiten. Meine Lehrerin war streng. Liebte ich Mozart, so musste ich Bach üben. Die Sonaten, Das Wohltemperierte Klavier, die zweistimmigen Inventionen und vieles mehr. "Der Technik wegen".
Bach war schwer, sehr schwer und ich verstand seine Musik zu Beginn nicht. Doch er war die erste Schnittstelle zum Jazz. Eines Tage sah ich mehrere Platten auf den Wohnzimmertisch meiner Klavierlehrerin liegen und auf einer entdeckte ich den Namen Chick Corea mit dem Plattentitel Now He Sings Now He Sobs. Eine gelb gefärbte Platte mit einem kreisrunden Ausschnitt, in dem man einen Mann am Klavier spielen sah. Daneben entdeckte ich weitere Platten mit Friedrich Gulda und Christoph Eschenbach auf dem Cover, doch Corea tat es mir am meisten an. Mich faszinierte sein Aussehen, ich konnte ihn keiner Ethnie zuordnen.
So bat ich meine Klavierlehrerin mir doch die Platte auf Kassette zu kopieren. Gesagt getan. Und ich erhielt diese Platte, auf der andere Seite das Album Friends.
Wir springen ein Stück weiter in die Zukunft. Zu Beginn meines Studiums machte ich die Bekanntschaft mit Errol Garner (neben Miles Davis und Chet Baker). Ein Kommilitone spielte mir eine Platte von Garner vor und ich war sehr angetan, kaufte mir selbst ein Album von ihm, verlor aber das Interesse, an Garner, an Corea, an Davis, am Jazz.
Alan Lomax ich ich haben für uns einen Satz geprägt:
"Er hat's drauf!"
Dieser Satz besagt, dass Sie oder Er in der Lage ist, etwas in Vollendung, in Perfektion, mit grösstmöglicher Überzeugung und Können zu vollbringen, etwas wirklich zu können. Es ist Respekt vor den Fähigkeiten des oder der anderen.
Eine Platte auf Kassette zu kopieren, eine Platte vorzuspielen, das ist das eine, jemanden wirklich zu inspirieren, das andere. Man würde also im Umkehrschluss sagen: "Er oder Sie hat's nicht drauf!". Diejenigen, die den gleichen Humor wie Lomax oder ich teilen, werden an dieser Stelle gehässig lachen, zu recht, wie ich meine.
Springen wir weiter in die 90er Jahre. Zu Beginn dieses Jahrzehnts begannen die legendären Musik-Sessions in Köln. Lomax und ich trafen uns regelmäßig, um Musik zu hören und ich muss an dieser Stelle anmerken: Alan Lomax war mein Mentor in Sachen Pop-Musik und Jazz. Ohne hin hätte ich nie angefangen, mich für diese Genres zu interessieren und ich verdanke ihm in dieser Beziehung sehr viel, weil er mir neue musikalische Universen eröffnete.
Am ersten Abend dieses ersten Treffens spielte Lomax als ersten Titel Romantic Warrior aus dem Album Return To Forever. Es war der Urknall. Ich hatte noch nie Musik dieser Art gehört und seitdem expandierte mein musikalisches Universum, bis heute! Chick Corea, Al (!) DiMeola, Stanley Clarke & Lenny White. Wow! Die Musik ging in die Beine, in den Bauch, aber nicht in den Kopf.
Alan Lomax hat's drauf!
Der Fairness halber muss man sagen: Im Jugendlichenalter verstand ich weder Bach noch Corea noch die Goldberg-Variationen. Ich konnte mit meinem noch reifenden Gehirn Corea nicht folgen. Es war, als würde uns eine schalldichte Mauer trennen. Nach Ausreifung des Gehirns und persönlicher geistiger Weiterentwicklung war ich in den Lage Jazz zu verstehen. Folglich hatte Alan Lomax es nicht nur voll drauf, sondern er hatte Glück und spielte die richtige Musik zum richtigen Zeitpunkt und mit nur wenigen Gesten der rechten Hand, den Oberkörper leicht vorgebeugt, eröffnete er mir: Jazz.
Von allen anderen Künstlern kaufte und hörte ich mir mehrere Alben an, von Corea steht nur dieses eine seitdem in meinem Regal. Digital besitze ich "The One Step" aus dem Album Friends (fantastisches Cover, hochrangige Mitstreiter) aus dem Jahr 1978. Und spiele beide Alben immer wieder. Ob sie es mir glauben oder nicht: Vor einigen Wochen hörte ich mir The Magician aus Return To Forever an.
Wenn Künstler und Musiker wie Chick Corea uns verlassen, dann erinnern Sie uns an uns selbst, an unsere eigene musikalische oder künstlerische Sozialisation, an die Vergangenheit und sie erinnern uns, zu welchen guten, aussergewöhnlichen Dingen wir Menschen in der Lage sind.
Auch wenn Chick Corea dorthin zurückgekehrt ist, von wo wir alle herkommen, wird er im Herzen bleiben.
Für immer.
Rick Deckard