TENET - Christopher Nolan
Ich weiß es nicht. Wenn ein Film zu Ende ist, dann hinterlässt er eine einzige oder eine Vielzahl an Emotionen und/oder Gemütszuständen: Glück, Freude, Wut, Ärger, Erstaunen, Euphorie. Als TENET zu Ende war, keimte gar nichts von alledem bei mir auf. Und mit nichts meine ich nichts. Das war eine ganz neue Erfahrung in der Rezeption von Filmen.
Nachdem einige Zeit vergeht, ist man fürgewöhnlich schnell dabei, das Gesehene zu analysieren, für sich selbst, für andere. Doch auch in diesem Zusammenhang bietet TENET keinerlei Option.
Bei TENET ist alles anders. Christopher Nolan hat ein neues Zeitalter der Filmrezeption eröffnet. Die Idee, die Handlung, die Geschichte erschliesst sich einem erst, nachdem man den Film 143 mal hintereinander gesehen hat, in Zeitlupe, rückwärts, vorwärts, langsamer Rücklauf, schneller Vorlauf, Pause.
Ich sitze seit 48 Stunden vor dem Rechner und überlege, wie ich ihnen in eigenen Worten erklären soll, worum es in dem Film geht. Nolan hat nämlich das lineare Erzählen verlassen. Es gibt keinen Anfang, keinen Mittelteil, kein Ende. Es gibt keine Gegenwart, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Alles ist ein kunterbuntes Durcheinander in diesem unerklärlichen Universum.
Soviel kann ich Ihnen verraten, ohne auch nur irgendetwas zu verraten: Irgendwer will einen 3. Weltkrieg auslösen. Warum, kann ich nicht erklären, weil ich es nicht verstanden habe. Dem kommt die C I A (?) auf die Spur. Wie, das kann ich nicht erklären. Ein russischer Waffenhändler ist im Besitz von rotierenden Stahlteilen, mittels denen er sich in der Zeit vor und zurück bewegen und sich durch eine Glasscheibe selbst beobachten kann. Er hat eine hübsche, blonde Frau, die grösser ist als er und der Hauptdarsteller.
Zwischendurch hat man "Ah"-Momente und meint für einen kurzen Zeitraum alles verstanden zu haben. Doch dann wird das Gehirn, wie eigentlich von Beginn an, mit so vielen Informationen befeuert, dass die Synapsen nach kurzer Zeit aufgeben und lediglich das bewegte Bild geniessen, ohne zu verstehen, warum.
Ich habe einiges an neuen Entwicklungen, Strömungen, Ideen in meiner eigenen filmischen Sozialisation wahrgenommen, erlebt, mitgenommen, aber TENET war eine vollkommen neue Erfahrung. Es ist bekannt, das Nolan sich für das Thema ZEIT begeistert und während es ihm in INTERSTELLAR gelang, ein wahrhaft schockierendes Beispiel dafür zu liefern, was Zeit eigentlich bedeutet, bitte entschuldigen Sie meine nachfolgende Wortwahl und Ausdruck, dreht er bei TENET völlig durch. He goes nuts.
Als die Nouvelle Vague das Licht der Leinwand erblickte, New Hollywood das Kino in andere Dimensionen lenkte, Tarantino PULP FICTION erschuf, in allen diesen Momenten war man verwirrt, erstaunt, euphorisch, verärgert, von Glück beseelt, man ging vielleicht nicht konform mit der Art der Erzählweise (A BOUT DE SOUFFLE), schlussendlich verstand man jedoch, was sich auf der Leinwand abspielte.
Dieser erhellende Moment, verehrte Leserinnen und Leser (oder lieber "Leser/-innen" (?)) ist 2020 Geschichte. Nolan eröffnet mit TENET eine neue Ära, nein, nicht die Weiterentwicklung des "mindfuck"-Subgenres, sondern die des ... ja was eigentlich? Sie spüren instinktiv, hier stimmt etwas nicht!
Bis zum Schreiben der Besprechung war ich hin und her gerissen, ob ich ein Meisterwerk des Trash, ein Meisterwerk des Nonsense, ein Meisterwerk des Meisterwerk gesehen habe, bis ich Erleuchtung fand in: Überflüssig! TENET gehört ab sofort in das Genre der "not necessary movies". Ob es den Film gibt oder nicht, Pustekuchen.
Aber gut, ich halte mich für einen durchschnittlich intelligenten Menschen, vielleicht verstehen Sie hinter alledem mehr?
Nolans Abstieg hat begonnen, wie einst der des David Fincher, der des Denis Villeneuve, wobei es bei dem zuletzt genannten noch einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt, nachdem ich gestern den äusserst beeindruckenden Trailer zu DUNE gesehen habe. Bereits bei DUNKIRK spürte ich, dass der bislang so von mir gefeierte Nolan begonnen hatte, sich selbst zu demontieren. Mit TENET hat das Firmament auf dem er steht gewaltige Risse erlitten.
Und ganz nebenbei: J. D. Washington ist mit Abstand einer der schlechtesten Schauspieler, die ich je gesehen habe, der hat bestimmt viele andere, vielleicht auch künstlerische Talente, aber es ist nicht das Schauspiel. Gleiches gilt für Robert Pattinson ... Gott was für ein erbärmlich schlechtes Duo! Einzig Kenneth Branagh weiss zu überzeugen, ist mit seiner Darstellung aber vollkommen fehl am Platz.
Es gibt manchmal skurrile filmische Erfahrungen.
Jetzt weiß ich es. Oder doch nicht?
Aus dem Nirgendwo vor- und rückwärts laufend,
Rick Deckard