Der Fall Richard Jewell - Clint Eastwood

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  6. Dezember 2020, 15:38  -  #Filme

Der Fall Richard Jewell - Clint Eastwood

Der neue Film von Clint Eastwood ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.

Der Schauspieler, Regisseur und Produzent ist im Alter von 90 Jahren (!) noch immer im Geschäft. Welche Leidenschaft muss er für das Kino empfinden, abseits des Umstandes, dass seine Gesundheit es ihm noch erlaubt, auf diesem Niveau aktiv zu sein? Das zollt einem großen Respekt ab und verbindet mich und pal Alan Lomax mit dieser lebenden Legende, weil auch wir unserem Hobby Kino und Film stets mit grosser Leidenschaft nachgegangen sind.

Man kann RICHARD JEWELL (Originaltitel) "nicht" sehen, ohne die Vita von Eastwood, seine Filmografie als Darsteller und Regisseur zu kennen. Mann kann schon, jedoch erschliesst sich die Kohärenz seines Werkes besser in Kenntnis seines filmischen Werdegangs als Regisseur.

Bereits Ende der 80er Jahre begann der Wandel, als Eastwood das meisterhafte Drama BIRD über Charlie Parker drehte, einer der besten, intensivsten und beeindruckendsten Filme über einen Jazzmusiker. Es zeichnete sich ab, dass "Clint" dabei war, einen Wandel zu vollziehen. Die Weichen wurden endgültig umgelegt, als eines seiner weiteren Meisterwerke die Leinwand erblickte: UNFORGIVEN (Erbarmungslos). Dieser Western war und ist meines Erachtens ein ganz entscheidender Wendepunkt in der Karriere des Ausnahmetalents Eastwood. Doch dazu bald mehr.

In Kenntnis dieses Wandels lässt sich sein neuer Film DER FALL DES RICHARD JEWELL besser verstehen. 

Der Fall Richard Jewell - Clint Eastwood

Eastwood erzählt zusammen mit seinem Drehbuchautoren Billy Ray die Geschichte des Wachmanns Richard Jewell, der als Held gefeiert wird, weil er während der olympischen Spiele 1986 in Atlanta, Georgia ein Attentat verhindert, kurz darauf vom FBI aber selbst als Täter bezichtigt wird.

Meines Erachtens geht es Eastwood nicht um Schuld und Sühne (eines seiner Hauptthemen in den Filmen in späteren Lebensdekaden), sondern um die Macht von Vorurteilen und Stereotypen, Neid, Denkfehler und Unmenschlichkeit. Und Eastwood zeigt dies in diesem Filmen mit einer so eindringlichen und emotionalen Wucht, dass einem die Tränen in den Augen stehen.

Warum ist dieser Film in vielerlei Hinsicht bemerkenswert?

Zum einen zeigt er, wie wichtig eine gute Geschichte für den Erfolg eines Films ist. Das Talent liegt aber nicht nur darin, gute Geschichten gut zu erzählen, sondern Geschichten für das Kino zu entdecken. Darin liegt die eigentliche Kunst. Soweit mir bekannt, las Eastwood einen Artikel im Vanity Fair Magazin über den echten Richard Newell, der ihn zum Film inspirierte.

Auf der anderen Seite zeigt er, wie man mit einfachsten Mitteln eine Geschichte ausserordentlich spannend erzählen kann und das ohne Effekte und Krawall. Von Beginn an hält er die Spannung bis zum Schluss aufrecht. Neben dem eigentlichen Inhalt des Films sorgt der gekonnt inszenierte Spannungsbogen für einen hohen Unterhaltungswert.

Auf psychologischer Ebene ist er ein Lehrstück über menschliches Verhalten mit vorgefassten Meinungen. Er zeigt die negative Wirksamkeit von fundamentalen Attributionsfehlern und wie Menschen besessen von einer einzigen Idee nur nach Argumenten und Hinweisen suchen, die ausschließlich die eigene These, die eigene Ansicht stützen und konsequent alles andere ignorieren, was der eigenen These, Meinung, gar Weltsicht entgegensteht  oder widerspricht (confirmation bias).

Oftmals meinen wir unser Gegenüber sehr gut zu kennen und einschätzen zu können (weil wir uns im eigenen Urteil in der Meinungsbildung über den anderen erheblich überschätzen). Im Film wird das in den Szenen deutlich, in denen der Anwalt Jewell auffordert, sich zu wehren und nicht den "best Buddy" zu spielen. Das sind mitunter die stärksten Szenen des Films, in denen dem Zuschauer gewahr wird, dass er selbst den Protagonisten falsch einschätzt. Es schnürt einem fast die Kehle zu, als Jewell seinem Anwalt offenbart, warum er ihn nach der ersten Begegnung so schätzte und sich für ihn als Verteidiger entschied. Wir unterschätzen Menschen. Hervorragend inszeniert!

Die emotionale Wucht der Handlung und ihre Inszenierung ist ein weiteres Merkmal in Eastwoods Spätoeuvre, da nimmt er keine Rücksicht auf Befindlichkeiten des Zuschauers. Wie und welche Entscheidungen Menschen in extremen Situationen treffen, ist ein weiterer roter Faden in Eastwoods Werk. MILLION DOLLAR BABY ist ein Beispiel für zu Herzen gehende Gefühle beim Zuschauer, an der Grenze des Erträglichen.

Die schauspielerischen Leistungen von Paul Walter Hauser, Sam Rockwell und Kathy Bates sind hervorragend und tragen die Bürde der Figuren in glaubhafter Manier. Insbesondere Hauser weiß zurückhaltend und nuancenreich zu spielen.

Als letztes sei erwähnt, dass auch die kritische Darstellung der Medien ein weiteres, sehr gelungenes Thema der Inszenierung ist, gerade im Hinblick auf Fakten versus Schlagzeilen. Die Zurschaustellung der Allmacht staatlicher Institutionen in Verbindung mit einer polarisierenden und Meinungsbildenden Presse ist unübersehbar.

Clint Eastwood ist Lomax' und mein filmisches Universum in persona. Er schuf über Sergio Leone eine gemeinsame Basis für uns in unserer filmischen Sozialisierung, in dem er Europa und Amerika einigte, er lieferte eine sensationelle Leistung in WHERE EAGLES DARE (mit diesem Film begann der eigentliche Kult), wurde mit DIRTY HARRY zur Ikone, drehte mit Michael Cimino, lieferte mit THE OUTLAW JOSEY WALES einen der besten Western aller Zeiten um schliesslich mit UNFORGIVEN als Regisseur Geschichte zu schreiben.

Schauspieler, Regisseur, Produzent und Komponist.

Er ist der Größte.

Er ist die Verkörperung all unser filmischen Leidenschaften in einer Person.

Unantastbar.

Unerreichbar.

Clint Eastwood.

Aus Atlanta,

Rick Deckard

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