Big Crown Records – Was bedeutet schon zeitlos!? Eine längst überfällige Plattenlabel Review

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  9. November 2020, 16:08  -  #674.fm, #Alan Lomax Blog, #Album Review, #Feuilleton, #Independent Musik, #Kommunikation, #Popmusik, #Populäre Musik, #Vergessene Helden, #jazz

Big Crown Records – Was bedeutet schon zeitlos!? Eine längst überfällige Plattenlabel Review

Plattensammler kennen das Problem: Da werden im Laufe eines Zeitraums einige Bands entdeckt und in einem lichten Moment werden diese Entdeckungen alle dem Gleichen Label zugeordnet. Fiebrig werden ältere Käufe neusortiert und die Forscherei geht los. Und richtig, alle diese Bands haben eine Heimat. Der Backup Katalog wird inspiziert und plötzlich, gibt es  ziemlich viele vinylistische Gründe sein Konto zu überziehen oder seine Einkünfte ans Existenzminimum zu treiben, um so schnell als möglich diese ganze Edition im schwarzen und runden Gold des Plattenlabels zu besitzen.

Lee Fields & Expressions habe ich –first time, first love– auf dem Haldern Pop Festival 2013 gesehen. Ein famoses Konzert des amerikanischen Soulsängers, der wegen seiner Ähnlichkeit mit James Brown auch Little JB genannt wird. In diesem Jahr spielte Lee Fields mit einer italienischen Superband bestehend aus exzellenten Studiomusikern (VIncent D’Annunzio, Jacob Silver etc.) zusammen. Ein strahlendes ehrliches und unvergessliches Konzert. Vor einigen Monaten hörte ich den Song It Rains Love (2019) erstmalig und konnte mich von diesen grandiosen Bläsersätzen und Fields klassischer Tamla Motown Stimme nicht mehr trennen. Fields besitzt noch immer die Würde eines echten Crooners und hat dann eben auch auf dem Label Big Crown einige hochkarätige Funk- und Soul-Alben (…2017 Special Night und 2019 It Rains Love) veröffentlicht.

Nun ist das Plattenlabel aus New York City aber kein Label, welches für ein Soul-Revival steht!

Leon Michels und Danny Akalepse‘s Auswahl an Bands ist viel betreffender gefasst, als, das was sonst in diese Schublade zur Beschreibung passt:

„Unser einziger Anspruch an Musik auf dem Label ist, dass wir sie mögen. Wenn eine Platte dope ist, dann ist sie dope, egal wie sie gemacht wurde. Ich weiß nicht, ob jeder den roten Faden erkennen wird, aber es gibt ihn.“, sagt Michels in einem Interview.

Leon Michels und seine Band El Michels Affair muss unbedingt in meinem Label-Spektrum erwähnt werden. Die Band entstand Anfang der 2000er als Amy Winehouse, Sharon Jones & The Dap-Kings Erfolg hatten und so auch Ikonen der 1970er wie Donny Hathaway oder Curtis Mayfield eine erneute Beachtung bekamen.

Es fällt nicht leicht den ganzen Katalog in diesem kurzen Text abzubilden und es ist sehr wichtig zu verstehen, dass es sich bei Big Crown und Leon Michels musikalischen Ansatz auch im weitesten Sinne nicht um eine „schwarze“ Retro-Romantik handelt, sondern der Ansatz immer die Idee der Weiterentwicklung der Musik ist, unter der zusätzlich scheinbar ständigen Berücksichtigung von Attributen wie „Zerlegung der Basis musiktheoretischer Fragen“ oder „Unterscheidungsfähigkeit des Zuhörens“. Die Referenz ist hier sicherlich und unbedingt das Album „Enter The 37th Chamber“ – die Neueinspielung des Wu-Tang Clan Klassikers „Enter The Wu-Tang (36 Chambers)! …schlichtweg ein Meisterwerk im Sinne einer tiefgehenden Idee und eines noch komplexeren Unterfanges, aus etwas Bestehenden, etwas völlig Neues zu erschaffen und nicht nur einfach ein Cover zu aufzunehmen. Für uns Liebhaber bleibt die Herausforderung, eine Höraufgabe. Michels spielt mit den Samples und bringt somit die Adaption der Vorlage auf ein weiteres Level, sozusagen in die dritte Dimension. Michels hat sich für die Jazzvariante entschieden und jeden der Wu-Tang Songs/Samples instrumental eingespielt. Und wenn Nerds wie ich, an dieser Stelle von komplexer Vertracktheit oder genialer Verblendung im Sinne eines Free-Jazz-Ansatzes sprechen, so ist diese Welt doch viel einfacher! Denn „Enter The 37th Chamber“ gemeinsam mit der Originalvorlage ist eine Steilvorlage für alle die ihren Nachkommen erklären möchten, weshalb es wichtig ist Musik zu rezipieren, um dann zu verstehen, weshalb eine gewisse persönliche Distinktion noch bedeutsamer ist – „nichts erreicht meine Welt!“ im besten Sinne und sozusagen.   

Weiter im Katalog: Das Trio Holy Hive sind eine meiner liebsten = populärsten Entdeckungen im Big Crown Universum. Die Band ist klar in die wundervolle Epoche der sog.  Sixties/Seventies zu verorten und Holy Hive sind zeitlos, wie eine musikalische Zeit mit Wahrhaftigkeit und Erinnerung in diesem Sinne ohne Zeit nur sein kann. Dachten Sie etwa, dass mit der Band Whitney dieses Revival für die Zukunft besetzt sein wird und insbesondere die Abteilung Falsett-Gesang damit abgedeckt ist? Falsch gedacht? Der Sänger Paul Spring mag zwar Max Kakacek und Julien Ehrlichs gesanglich und musikalisch verbunden sein, aber natürlich dekonstruiert die Band bis zum Anschlag des Möglichen, ohne dabei auch nur einen Takt anstrengend zu sein, während Whitney aus Chicago mit ihrem Ansatz rekonstruieren. Ein wesentlicher Unterschied, der aber dennoch völlig wertfrei ist. Aber der Vergleich und die Überlegung des abweichenden Ansatzes muss erlaubt sein.

Ich habe zig Plattenkritiken gelesen, in der Hoffnung die Worte zu finden, die mir selbst nicht einfallen. Aber gescheitert sind all‘ die Schreiberlinge an Form und Gehalt der Band. Holy Hive sind ineinandergreifend, wie es in diesem Jahrhundert, von der Rezeption her nur wenige Popbands waren, die sich mit einem ähnlich klassischen Value Ansatz verpflichtet haben.  Ähnlich wie es in den 1990ziger Jahren Bands wie Stereolab oder Saint Etienne schafften.

Der Schlagzeuger Homer Steinweiss (Amy Winehouse, Charles Bradley, Bruno Mars und Gründungsmitglied von den Dap-Kings) und sein reaktionär, retrospektiver Shuffle-Beat muss als bahnbrechend bezeichnet werden. Seine Virtuosität lässt dann auch alle aktuellen großen HipHop-Produzenten Schlange stehen. Denn Steinweiss Beat, ist so krass Off, dass er nicht reproduzierbar ist und von allen die sonst an den Maschinen hängen, gewollt wird.

Am Ende gewinnt doch immer die Virtuosität des einzelnen Musikers, wie es bereits Donald Fagen (Steely Dan) sagte. Bei den vielen Bands die heute fast alles Alte reproduzieren, dabei gefallen, aber selten auffallen, gehen Holy Hive weiter, da sie sich eben auch das Traditionelle bewahren, zurückkehren und doch etwas schneller zum Ziel kommen und nicht nölig, künstlerisch und schwer rum eiern. Und wenn ich Steinweiss Rhythmik erwähne, beruht das natürlich auch längst Gehörtes und steht somit im direkten Zusammenhang zu Steely Dan. Und an der Stelle lehne ich mich mal sehr weit aus dem Fenster und erwähne nicht Jeff Porcaro, sondern spreche von Bernard „Pretty“ Purdie.

 

Die nächste Band vom Big Crown Labe,l die einem im legendären Nebel der Unfassbarkeit stehen lässt, sind The Shacks, bestehend aus Shannon Wise und dem Gitarristen Max Sharger. Ich bin mir nicht sicher, was es genau ist, aber ich bin mir sicher, dass alternative Realität eine gute Beschreibung für die sehr filmischen Songs des Duos ist. „Haze“ war das Debutalbum und ist wiederum auch produziert von Leon Michels. Sehr psychedelisch, dennoch klar, eskapistisch und wunderschön. Die neuere Single „Wings“ muss bitte hier gehört werden, um direkt zu entscheiden: Good oder Outstanding Good

Und dann sind da noch Bobby Oroza, Lady Wray und die unbedingt erwähnenswerte Band: 79.5. Was für eine Schmiede der entdeckungswürdigen Musik. Und wie bereits eingangs erwähnt: es gibt kommerziell für einen Sammler der auch nur Ansatzweise musikalisch über den berühmten Tellerrand gucken kann, keinen Grund mit dem vollständigen kompilieren des Verlagswerk von Big Crown anzufangen. Na klar, die Karte glüht. Der Herbst 2020 kann sich vor guten neuen Bands und Wiederveröffentlichungen kaum retten. Und ich will diese Verzweiflung nicht noch erweitern…daher ratsam schließen und die Label Band Brainstory erwähnen, die die ganze Attitüde der Idee Big Crown, in der Gänze am besten zusammenbringt.

Das Album Buck (2019) erwähne ich daher gerne als Eintritt in das Big Crown Universum und Merch; natürlich auch produziert von Leon Michels. Wir hören erneut Sixties-Soul-Kopfstimmen, deepen Funk, Gospel in einer zementierten Mischung mit etwas Rock, Jazz und Folk und einer ganz schön krassen Priese Punk, die das ganze Mal so richtig cool macht. Bitte! Freunde! Leser! Punk ist hier natürlich nicht als Drei-Akkorde Stilelement zu verstehen, sondern als bewusst aufgenommen Wahrnehmung.

Big Crown wurde 2016 gegründet und gilt unter Urban Groove Liebhabern schon lange als State of The Art. Mein Querschnitt kommt somit aber vier Jahre später nicht zu spät. Denn nach der Zeit ist längst klargeworden, dass jedes Release von diesem Label blind gekauft werden kann, um zu stauen und zu versuchen zu verstehen.

Zeitlos? Ist das eigentlich ein totes Wort? Eine Bezeichnung die rückwirkender sein mag, als ich es erahne? Labelmade Lee Fields sagt:

"I'm singing about being a living soul, a spirit encased into a body and lasting for whatever time is given to us on this place called Earth."

Und somit gibt es ja dann auch wieder keine weiteren Fragen und Antworten…

Aus Michigan, aus New York, aus Köln von diesem Planeten

Alan Lomax

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