Moers Festival 2020 New Ways To Fly

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  3. Juni 2020, 12:17  -  #Moers Festival, #newwaystofly, #674.fm, #Elektronische Musik, #Festivalbericht, #Festivals, #Haldern Pop, #Konzerte, #NEU! Elektronische Musik, #Radio

Fotos John Ross Ewing PhotoimplosionFotos John Ross Ewing Photoimplosion
Fotos John Ross Ewing Photoimplosion

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Die gute Nachricht: Das Moers Festival wird als das eines der weinigen Musikfestival des Sommers 2020 in die Geschichte eingehen. Die schlechte Nachricht: Leider auch ohne Publikum. Also wieder nur ein schlecht ausgeleuchteter und furchtbar abgemischter Musiker aus irgendeinem Wohnzimmern dieser Welt, der meint, dass seine Musik und sein Status ausreichend sind, um seine Kunst zu präsentieren, ohne auf die Regeln des Handwerks zu achten?  Live-Musik im Stream um jeden Preis sozusagen? Nicht so in Moers! Denn ebenso wie das kleine niederrheinische (gallische) Nachbardorf Haldern haben die Festivalmacher den Kopf schräg gelegt, haben nachgedacht, waren kreativ, flexibel und mutig: Zwei Wochen vor diesem Wochenende wurde das Konzept angepasst, unglaubliche Anstrengungen unternommen das Line-Up zu justieren. Aus der Festivalhalle wurde ein Fernsehstudio entwickelt. Die Idee: Eine viertägige Geschichte zu erzählen, bekannte internationale Musiker, die in Deutschland residieren, einzuladen, um so international langerwartete Acts wie John Zorn oder Archie Shepp zu kompensieren, um den Zuschauern und Jazzenthusiasten  trotz der schwierigen Situation Livemusik unter allerfeinsten Bedingungen zu präsentieren.

The Notwist am Montag

Der Festivalleiter Tim Isfort erklärt uns in einem Interview, dass das Studio eine Art Werkstattatmosphäre vermitteln soll, „wo Kabel rumliegen und alles ein wenig unfertig aussieht“. Natürlich gab es kein Publikum. Aber ein paar priviligierte Journalisten, die Musiker Vorort und jede Menge ARTE und WDR Techniker, die das Ganze unter professionellen Bedingungen in die Welt auf allen Kanälen übertrugen. Der Pianist Chilly Gonzales brachte es nach seinem unterhaltsamen und zutiefst bewegenden Konzert am ersten Festivaltag auf den Punkt und sagte sinngemäss und etwas ironisch: „...als Weltstar bin ich es gewohnt in den größten Konzerthallen der Welt vor Tausenden von Menschen aufzutreten. Das hat mir in den letzten Monaten am meisten gefehlt. Heute aber hier in Moers haben mir auch die ca. 30 Menschen im Publikum gereicht, denn ich habe eine tolle aufmerksame und sehr intensive Konzentration gespürt“. Wir selbst durften auch Teil dieser wenigen sein und ich kann bestätigen, dass es eine Wohltat war, die Konzerte zu genießen, live Musik zu hören und einen ungeahnten Spirit zu fühlen, der nicht nur Vorort bei der geduldeten kleinen Menge von Zuschauern für Begeisterung sondern auch weltweit für große Aufmerksamkeit und in kulturellen Kreisen für ein positives Feedback sorgte.

Das Moers Festival 2020 wird belohnt werden und darum in die Musikfestival-Geschichtsbücher eingehen. Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach sagte, dass uns das Corona Virus an eine Zeitwende gebracht hat, in der beides jetzt möglich ist, das Strahlende und das Schreckliche. Das Moers Festival strahlt ab sofort noch stärker und hat aus dem Schrecklichen das Schöne und Äußerste möglich gemacht.

In Zeiten, wo der musikalische Mainstream den Zuschauern vorschreibt, keine eigenen Gedanken mehr haben zu dürfen, weil der Musiker als Produkt auf Festivals jede Reaktion des Publikums vorzeichnet, zeichnet Moers mit seinem Programm einen anderen Weg. Natürlich den eigenen Atem vorausgesetzt, nicht mehr der Idee einer Musik als Ganzes zu folgen, sondern mal darüber nachzudenken das große Ganze aufzulösen.

Der Jazz hatte schon immer genau diesen Verve und die Programmzusammenstellung von Tim Isfort folgt dieser Idee und gibt dem Jazz die Attribute zurück, die richtig sind und von Puristen zu lange determiniert wurden. Jazz steht für Freiheit, für Improvisation, für Toleranz und für Mut. Vielleicht konnte ein internationales Festival noch nie so leicht auf seine internationalen Mainacts verzichten wie es dem Moers Festival in diesem Jahr unbeabsichtigt passiert ist und sich Kennerschaft und Sachverständnis des Publikums mehr auf nationale Gruppierungen konzentrieren musste. Auch das kann als Privileg des Strahlenden bezeichnet werden. Die Reproduktion des immer Gleichen wurde somit durch Auftritte von Bands wie GEWALT und The Notwist aufs Grenzenlose zerlegt und neue unbekannte Musiker der freien Musikszene besonders ersetzt.

Welche Relevanz z. B. die Auftritte des Niels Klein Trio & EOS Kammerorchester, cond. Susanne Blumenthal oder der fulminante Auftritt des Musikerkollektivs TAU 5 als Bedürfnis des Gegensatzes hatten, ist wohl jetzt kaum zu messen und würde nur in armseligen Sinnzusammenhängen meinerseits enden, aber ich wollte es zumindest erwähnt haben. Für ein Fazit lässt sich gut mit den Gedanken eines Theodor W. Adorno spielen, der sagte, dass Standards ursprünglich aus den Bedürfnissen des Konsumenten hervorgegangen sind. Tim Isfort denkt über den "Wert der Musik" nach und hat es in diesem Jahr tatsächlich geschafft, das Modell der vorhandenen Musikkultur zu hinterfragen und neu darzustellen. Wir alle dürfen gespannt sein, ob sich das auf den kulturellen Makrokosmos und unseren musikalischen Mikrokosmos auswirkt.


Danke Moers
Alan Lomax

Am 27. Juni 2020 gibt es auf 674FM ab 18:00 Uhr unsere ca. einstündige Festivalreportage inkl. Interviews mit Tim Isfort, Gewalt und Jacques Palminger zu hören. Später können Sie alles im Podcast auf mixcloud.com nachhören

 

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